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Ende einer Welt

Titel: Ende einer Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claude Anet
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ein. Denn vier ist dem Stamme eine
glückbringende Zahl; hatte der Ahne nicht vier Söhne
und vier Töchter? Von ihnen stammen die unzähligen
Söhne des Bären, welche die Welt mit ihrer Tapferkeit
erfüllten. Jeder der jungen Leute trägt eine Fackel.
Langsam gelangen sie durch den engen Felsspalt. Dort, wo er sich zur
Grotte erweitert, werden die Fackeln in den Vertiefungen der Felsen
befestigt und erhellen den ganzen Raum.
    Mit erstaunlicher Lebendigkeit sind ringsum an den
Wänden all die Tiere, die die Leute vom Fluß zu jagen
gewohnt sind, in ihren bekannten Stellungen und Bewegungen abgebildet.
Durch geschickte Ausnutzung der Vertiefungen und Vorsprünge
des Gesteins gibt ihnen die mit Meisterschaft verwandte Farbe den
Anschein wirklichen Lebens. Hier liegt der Ursprung der magischen
Kraft, mit der die Abkömmlinge des Bären
über die Tierwelt, die ihnen untertan ist, herrschen, und
deren Bilder das Geschick der Tiere mit dem des Stammes verketten. No
betrachtet sie bewundernd. Hier die Bisons; die einen scheinen in Ruhe
nachzusinnen, die anderen spielen und springen umher; wieder andere
fliehen vor ihren Verfolgern. Galoppierende Pferde erblickt er und
drohende Stiere. Ein Renntier beschnuppert, den Hals gestreckt, sein
liegendes Weibchen. Auf den Felsen grasen friedlich Mammute mit
listigen Augen. Keines ist vergessen, weder das zweihörnige
Rhinozeros in seinem Pelz, noch die gefürchtete Katze. Ja,
alle sind hier durch die Kunst, die die Söhne des
Bären auszeichnet, vereinigt. Es gab in der Tat kein anderes
Volk, das den Geist und das Talent gehabt hätte, die Tiere
derart naturgetreu abzubilden und sie dadurch in zauberhafte Bande zu
verstricken. Denn ebensowenig wie ihr Bildnis die Felswand zu verlassen
vermag, sind sie selbst nun nicht mehr frei, um aus eigenem Willen aus
den Jagdgründen des Stammes zu fliehen.
    Vor jedem Tier spricht der Weise die alten Formeln. Dreimal
sagt er sie vor, dreimal werden sie von seinen Jüngern
wiederholt. Nichts ist in der ganzen Einweihungsfeier wichtiger. Ohne
diese Sätze sind die Bilder nur zwecklose Darstellungen, und
von den Bildern getrennt, werden aus den Formeln nur sinnlose Worte.
Der Fähigkeit beraubt, die einen zu malen und die anderen
auszusprechen, würde der Mensch ein Unseliger sein, ein
Spielball der feindlichen Mächte. Niemals würden die
Leute vom Fluß ihre heiligen Grotten verlassen, in denen die
geistigen Kräfte des Stammes ruhen.
    Die Männer unter ihnen, die die Gabe haben, die Tiere
so darzustellen, zählen zu den ersten im Stamme, und jeder
achtet sie. No denkt mit Stolz, daß er eines Tages zu den
Bildern an diesen Wänden eines hinzufügen wird.
    Mit andächtiger Aufmerksamkeit lauschen die jungen
Leute den Worten des Weisen und bemühen sich, sie zu behalten.
Ihr eigenes Leben und das Bestehen des ganzen Stammes hängt
davon ab!
    Endlich verlassen sie, trunken von Stolz und erfüllt
von ihrem neuen Wissen den heiligen Ort. Jetzt sind sie Männer
geworden, bereit, ein neues Leben zu beginnen.
    Eine zweite Gruppe von vier Jünglingen löst
sie ab. No mit seinen Gefährten verbringt den Rest des Tages
in der anderen Grotte.
    Abends vereinigt eine feierliche Versammlung alle jungen
Eingeweihten mit den Weisen des Stammes. Sie haben bis jetzt fern von
den Frauen gelebt, aber bald werden sie sich verheiraten. Sie werden
dann erfahren, daß der Mann nicht nur mit den Tieren zu
kämpfen hat, die ihm als Nahrung dienen, nein, auch mit der
Gefährtin an seinem Herdfeuer. Die Fallen und Schlingen, die
sie ihm legt, sind schwieriger zu vermeiden, als die Listen und
Angriffe der Tiere. Oder aber ermüden ihn diese
unersättlichen Weibchen, verweichlichen ihn und hindern ihn in
seiner Beschäftigung. Oder sie nützen sein Fernsein,
um sich mit jenen, die zu Hause geblieben sind, zu unterhalten. Ein
weises Gesetz verbietet darum den Frauen, deren Männer auf der
Jagd sind, ihre Hütten zu verlassen. Auch dürfen sie
sich während dieser Zeit nur von Kräutern und Beeren
nähren und müssen Fleisch meiden. Wenn sie gegen die
Regeln verstoßen, können ihre Männer bei
ihrer gefährlichen Unternehmung sterben. Aufgabe der Weisen,
die unverheiratet sind, ist es, die jungen Leute vor den Gefahren zu
warnen, die von den Frauen drohen. Und welche Zeit wäre besser
für diese Warnung geeignet als jene vor der Rückkehr
der Eingeweihten in die Freiheit?
    No lauscht den leidenschaftlichen

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