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Ende einer Welt

Titel: Ende einer Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claude Anet
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entflattern No wie scheue Fledermäuse.
Sie schweben über Zeit und Raum und entführen ihn
durch Unendlichkeiten bis in jenes ferne Land, wo der Ahne zu einer so
weit zurückliegenden Zeit geboren wurde, daß selbst
die Weisen, die aus den Sternen zu lesen verstehen, sie nicht zu
berechnen vermögen. Dort sieht sich No als Sohn jenes
allmächtigen und schlauen Bären. Er rettet sich an
die Brust des Ahnen, wie ein Kind in den Schoß der Mutter.
Alles ist jetzt friedlich und schön ringsum ...
    Ein kalter Hauch trifft seine Stirne. Eine Stimme
dröhnt:
    »Bist du gestorben, so erwache, um neu geboren zu
werden!«
    Und eine Flüssigkeit wird zwischen seine starren
Lippen geträufelt. Er öffnet die Augen. Er ist
geblendet.
    Strahlendes Licht erfüllt eine enge Höhle.
Im Hintergrunde erblickt er ihn selbst, den großen Ahnen, in
jener Gestalt, die er angenommen hat, um ewig über seine
Söhne zu wachen. Vor ihm stehen, sich neigend, die drei Weisen
in ihrem festlichen Gewand. Jeder hält eine
Bärentatze in der Hand. Hinter dem Ahnen aber reihen sich,
soweit der Blick reicht, alle eingeweihten Männer des Stammes,
wunderbar bemalt, die Augen vergrößert, den Bogen der
Augenbrauen schwarz, die Schultern und das Gesicht rot bestrichen.
Zobel und Silberfuchs zieren ihre feierliche Kleidung. Adlerfedern
krönen ihren Haarschmuck.
    Sie singen einen fremdartig wilden Chor, in dem
regelmäßig zwei Worte dumpf erklingen: »Die
Bären.« Dann unterbrechen sie sich und lassen ein
fürchterliches Brummen ertönen.
    Die ganze Hütte widerhallt davon. No ist ganz
ergriffen. Die Schmerzen, die er erdulden mußte, Angst und
Müdigkeit, das Getränk, das einschläferte
und jenes, das ihn erweckte – er war vollkommen
entrückt gewesen. Jetzt erhebt er sich, er erwacht zum Sohn
des Bären, und seine kräftige Stimme mengt sich in
den Chor der Männer. Seine jungen Genossen ahmen ihn nach. In
der heiligen Grotte gibt sich eine einzige Seele kund.
    Langsam ermattet das Licht. Hie und da noch knistern
getrocknete Kräuter, die sich entzünden und wieder
verlöschen. Dann ist es Nacht. Eine schwere Wolke von
Düften hüllt die Jünglinge ein. Die Beine
zittern, sie wanken. Einer nach dem anderen verliert das
Bewußtsein und fällt nieder.
    Beim Erwachen findet No sich wieder auf jener Terrasse, auf
der er schon die Augen geöffnet hatte. Ist's zwei Tage, ist's
länger her? ... Sicherlich war es in einem früheren
Leben ... Was ereignete sich seither? War er selbst in der heiligen
Grotte gewesen? Oder war es ein zweites Ich, das dem Ahnen
gegenübergestanden hatte?
    Ein Weiser tritt heran, um ihn zu waschen. Die Kalkmilch, mit
der No bedeckt war, und die ihm die Farbe einer Leiche gegeben hatte,
wird jetzt, da er zu neuem Leben auferstand, wieder entfernt. Der Weise
verbindet den Riß am Hals und die beiden Wunden auf den
Schultern. Durst peinigt No. Der Weise flößt Wasser
in seinen Mund, dem Honig und auch Beeren beigemengt sind; langsam
macht er ihm die Bewegung des Kauens vor, um diesen neu Geborenen zu
lehren, wie man ißt. No fühlt seine Kräfte
wiederkehren.
    Eine neue, sonderbare Handlung beginnt, die einen tiefen
Eindruck bei den Jünglingen hinterläßt.
    Zu jedem der Eingeweihten treten zwei Alte. Sie fassen den
Ruhenden unter den Schultern und stellen ihn auf. Sie singen wie die
Mütter zu ihren Kleinen:
    »Eine, zweie – Kindlein fällt,
Eine, zweie – Kindlein geht.«
    Nach diesem Rhythmus erfassen die Alten das rechte Bein des
Eingeweihten, tragen es vor und setzen den Fuß auf den Boden.
Dann stoßen sie »ihr Kind« und lassen es
vorwärts stolpern. Ins Gleichgewicht gebracht, folgt der
gleiche Vorgang mit dem linken Fuß. So lernt der
Wiedergeborene das Gehen. Seltsam schwankt die Reihe der jungen Leute
auf dem sandigen Hange. Die Bewegung verstärkt sich. Bald
lassen die Alten die Eingeweihten allein, diese zögern noch
alle drei Schritte und stolpern.
    Sie sind den ganzen Morgen marschiert. Sie halten an. Ein
Weiser nähert sich dem an der Spitze schreitenden No. Mit dem
Finger deutet er auf ihn und sagt:
    »Du bist No.«
    »No?« erwidert dieser erstaunt.
    »Du bist No«, wiederholt der Weise und geht
zum nächsten.
    Im Abenddämmern – es ist der dritte Tag
– wird No mit einigen Gefährten in die heiligen
Grotten geführt, denn es gibt deren zwei, die einige tausend
Schritte weit auseinanderliegen. Immer vier Jünglinge
gemeinsam treten

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