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Ende einer Welt

Titel: Ende einer Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claude Anet
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für sonderbare Leute hier am Fluß! Sie waren
geschickt und hatten wunderbare Einfälle. Dieser No, dem man
nicht zugetraut hätte, daß er für etwas
anderes als für die Jagd tauge, setzte sich da einfach hin und
schnitzte ein Renntier – es war nicht zu verkennen. Der
Händler betastete das Stückchen Horn erstaunt und
erfreut. Und nach und nach begann sich in seinem Kopfe der Gedanke
festzusetzen, daß dieses Ding vielleicht irgendeinmal
– man wußte nicht wo und man wußte nicht
wann – ein wertvolles Tauschstück sein
könnte, ebenso wie ein schönes Pelzwerk ...
    Er sprach zu No: »Überlaß mir
dieses Renntier.«
    No begann zu lachen:
    »Aber du bist doch kein Jäger, was willst du
damit anfangen?«
    Der Händler fuhr fort:
    »Ja, ich habe manchmal meine Gedanken, die oft
seltsam sind. Ich möchte dieses Renntier gerne
besitzen.«
    »Nun gut, aber dann gib mir deinen Federschmuck
dafür«, erwiderte No, immer noch lachend.
    »Meinen Federschmuck? Meinen Federschmuck!«
wiederholte der Händler. »Du bist wohl nicht bei
Verstand! Meinen Federschmuck!«
    Er betrachtete nochmals das Renntier und nahm dann, zur
höchsten Verwunderung Nos, der all dies nur als Scherz
betrachtet hatte, sein Federnband vom Kopfe und reichte es ihm.
    »Hier,« sprach er, »du richtest
mich zugrunde. Nichts bleibt mir mehr. Aber da du der Sohn meines
Freundes bist, soll dein sein, was du dir wünschest.«
    Schon war das Stückchen Horn in einem der
Säcke verschwunden. Nun erhob sich der Händler. Er
kam zu Mah und überreichte ihr ein duftendes Säckchen.
    »Ein kleines Geschenk für das
schönste Mädchen.« Er faßte ihre
Hand und drückte sie an sein Herz. »Wir werden uns
noch sehen«, fügte er hinzu.
    Dann verließen sie die Terrasse und kehrten nicht
mehr zu der Hütte Timakis zurück.
    Am nächsten Tage, in der Dämmerung, betrat
Ophir, von Osten kommend, einen nahen Fichtenhain. Kurze Zeit darauf
drang, diesmal von Westen, ein Mädchen in den Hain, das Mah
erstaunlich ähnlich sah. Sie schien das Wäldchen nur
zu durchqueren und schloß sich bald nachher wieder ihren
Freundinnen an.
    Einen Tag später erfuhr man, daß die
Händler im Morgengrauen gegen Süden fortgezogen
seien. Und am Abend dieses Tages sagte Mah zu ihrer Mutter,
daß sie vor Sonnenaufgang die Hütte verlassen werde,
da die Mädchen des Stammes eine Blume suchen wollten, die man
nur zwischen dem Erscheinen des Morgensternes und Sonnenaufgang
pflücken dürfe. Sie würden alle
tagsüber in den Fluren bleiben. Sie sollten den jungen Leuten
nicht begegnen, die heute abend zu den feierlichen Prüfungen
der Einweihung hinausziehen würden.
    Mitten in der Nacht, als noch alles schlief, erhob sich Mah.
Am Eingang der Hütte blieb sie einen Augenblick stehen. Sie
schritt nochmals zu No zurück, beugte sich über ihn
und versuchte sich trotz der Dunkelheit seine geliebten Züge
– zum letztenmal – einzuprägen. Zu ihrem
großen Erstaunen bemerkte sie, daß Nos Augen weit
offen und auf sie gerichtet waren. Zart legte sie ihre Hand auf seinen
Mund, um ihn am Sprechen zu hindern. No zitterte im Fieber, denn seit
zwei Tagen schon hatte er fasten müssen. In seinem wirren
Geiste wußte er nicht, ob es wirklich seine Schwester oder ein
Geist sei, der Mahs Gestalt angenommen hatte und ihn im Schlafe
aufsuchte. Aug in Aug mit pochendem Herzen blickten sie einander stumm
an, ohne sich zu rühren. Plötzlich fühlte No
heiße Tränen auf seine Stirne fallen. War dies ein
Traum? Er schloß für einen Augenblick die Augen.
    Als er sie wieder öffnete, war die Erscheinung
verschwunden. Er war allein.
    Mah indessen schlich wie ein Schatten über die
Terrasse. Mondlose Nacht begünstigte sie. Sie stieg den Pfad
zwischen den Felsbrocken abwärts. Wer sie gesehen
hätte, wie sie lautlos dahinglitt, hätte geglaubt,
einen Geist vor sich zu haben und wäre erschreckt geflohen.
Doch wer aufmerksam gelauscht hätte, würde die
schweren, stockenden Schläge eines unruhigen Herzens vernommen
haben. Nahe bei dem Flusse wich Mah den Wohnstätten aus, nahm
den Weg durch ein rechtsliegendes Tal und erreichte bald einen
Hügel. Eine Gestalt löste sich vom Stamme eines
Baumes und schritt auf sie zu. Eine Hand faßte nach der ihren.
Beide liefen, den Nordstern im Rücken lassend, Hand in Hand
durch die laue Nacht.
    Gegen Mittag erreichten sie den großen Strom, der
gegen Westen fließt. Da sie nirgends ein Boot fanden,

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