Ende einer Welt
Worten des Weisen. Im
Dunkeln neben einem Reisigfeuer sitzend, dessen Flammen ihn manchmal
beleuchten, zittert dieser ausgetrocknete Greis vor Wut. Und mit ihm
verabscheut No die Frauen. In seinem fieberdurchglühten Geist
sieht er sie wie Dämone, die nur auf die Schwächen
des Mannes lauern, um sie zu seinem Verderben auszunützen und
ihn zu quälen. Doch plötzlich drängt sich
ein helles Bild in seine bitteren Betrachtungen. Es mengt sich zuerst
verwirrt den wechselnden Spielen des Rauches. Allmählich aber
löst es sich, Formen gewinnend, von ihnen ab und wird zu einer
weiblichen Gestalt. Sie hat ein liebliches Gesicht und ist
leichtfüßig. Narzissen und Akeleien
schmücken ihr Haar, ihre Augen strahlen wie taufrischer
Morgen. Oh, wie reizvoll ist sie! Von diesem Weibe kann kein Unheil
drohen, nur Glück und Zärtlichkeit kann sie geben.
Jetzt lächelt sie No zu. Er streckt ihr sehnsüchtig
die Arme entgegen und erkennt seine Schwester Mah ...
Die düsteren Greisenworte entschweben wie Wolken vor
dem Wind. No fühlt nur ein mächtiges Verlangen in
sich: zu leben, ein fliehendes Mädchen zu verfolgen und sie
als Weib an seinen Herd zu führen.
Er schläft ein, und die Nacht entführt ihn
seinen Gefährten, aus dem heiligen Hain und von der Grotte. Er
läuft quer durch das Land. Hinter jedem Baum vermeint er ein
Weib zu erblicken, das sich für Augenblicke zeigt und
entschwindet. Er eilt hinzu, sie entschlüpft, und die
Wälder widerhallen von ihrem spöttischen Lachen.
Sechs Tage noch halten die Weisen die jungen Leute im
verbotenen Bezirk. Kein Fleisch berührt während
dieser Zeit ihre Lippen. Sie besuchen die magischen Bilder, vor denen
die alten Formeln gesprochen werden. Die Lehren der Weisen sind in
diesem Jahr, in dem sich die Söhne des Bären von
unbekannten Gefahren bedroht fühlen, von besonderer
Eindringlichkeit. Wieviel der unerklärlichen,
furchteinflößenden Zeichen! Es gilt, den Eifer zu
verdoppeln, um sie zu bannen. Lange erfüllt das Murmeln der
alten Formeln die Grotte.
Doch die Prüfungszeit nähert sich ihrem
Ende. Die Wunden sind vernarbt. Die abgemagerten jungen Leute sind
jetzt frei, sie können nach Belieben kommen und gehen; sie
müssen sich für die Hochzeitsspiele stärken
und vorbereiten; nur die Nächte verbringen sie noch gemeinsam,
fern den Wohnstätten, auf der Lichtung, die am Fuße
des Felshanges liegt.
No eilt nach Hause, um die Seinen zu besuchen. Der Vater ist
auf der Jagd, nur die Mutter trifft er an, die vor der Hütte
tätig ist und – mangels anderer Gesellschaft
– mit sich selbst spricht. Trotz der Freude, ihren Sohn
wiederzusehen, tut sie, als würde sie ihn nicht erkennen. Er
muß ihr seinen Namen sagen. Dann erst schließt sie
ihn in ihre Arme.
Sie erzählt ihm von der Flucht Mahs. No bleibt
angewurzelt stehen, aber jetzt, da er die Grotten gesehen, muß
er seinen Kummer wie ein Mann ertragen. Wo mag sie weilen, die
Freundin, die Schwester? Viele Tage sind schon vorbeigegangen, seit sie
fort ist. Sie durcheilt unbekannte Länder, die für
immer den Leuten vom Flusse verschlossen sind. Nach Süden
muß sie gezogen sein, das ist der Weg, den die
Händler gehen ...
Und eines Morgens, noch vor Sonnenaufgang, stiehlt No sich
fort. Mit raschen Schritten strebt er dem großen Strome zu,
der dem Stamme als Grenze dient. Noch ehe es Mittag ist, hat er sein
Ziel erreicht.
Er lehnt an einem Steinblock und blickt um sich. Ein
hügeliges Land dehnt sich vor seinen Augen, den Fluß
entlang üppig mit Bäumen bewachsen, kahl in der
Ferne. Gebirge verschließen den Horizont. Dort muß
die kleine Mah seit Tagen gewandert sein. Der Geist Nos
überwindet alle Fernen und begegnet ihr.
Er liebt diesen Abhang, die besonnten Felsen, das reine
Wasser, das unter ihm dahinrauscht, diese Wälder, die Mah
vorbeigehen sahen. Später, wenn die Feier beendet ist, wird er
hierher zurückkehren. Die Worte des Weisen erwachen in seinem
Gedächtnis. Wie soll man den Frauen vertrauen, wenn selbst
Mah, ohne die Hochzeitsspiele abzuwarten, mit Fremden fliehen konnte?
Sie sind voll Ränke wie die Tiere. Man kennt sie nie...
Erst im Abenddämmern kehrt No zum Stamme
zurück. Mahs Verschwinden bedrückt ihn. Wie kann man
sie zurückbringen?
Am nächsten Morgen sucht er seine Freunde auf, die
unweit seiner Wohnstätte an einem abseits gelegenen Orte
Knochen, Elfenbein und die Geweihe der Renntiere bearbeiten. Ihnen
erzählt
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