Ende eines Sommers
südwärts. Bin vermutlich Montag abend oder Dienstag morgen wieder zu Hause. Paßt gut auf Euch auf, wenn ich weg bin, und geratet nicht in Schwierigkeiten. Alles Liebe, Sinclair.
Das war alles. Ich legte den Brief hin, und meine Großmutter sagte: „Gestern nacht gegen halb eins hat das Telefon geklingelt. Hast du es gehört?“
Ich ging, um mir Kaffee einzuschenken, dankbar, daß ich einen Grund hatte, ihr nicht in die Augen sehen zu müssen.
„Ja, ich habe es gehört.“
„Ich wollte schon drangehen, aber ich war ziemlich sicher, daß es für Sinclair war, deshalb ließ ich es klingeln.“
„Ja …“ Ich trug die volle Tasse zum Tisch zurück. „Macht er … macht er das öfter?“
„Hin und wieder.“ Sie sortierte einige Rechnungen aus. Mir wurde klar, daß ihr offenbar ebenso daran lag, sich zu beschäftigen, wie mir. „Er führt ein so erfülltes Leben. Und dieser Job scheint ungeheuer viel Zeit zu beanspruchen … Es ist nicht wie in einem Büro, wo es feste Arbeitszeiten gibt, von neun bis fünf.“
„Nein, das ist es wohl nicht.“ Der Kaffee war heiß und stark und half, den Knoten in meinem Hals zu lösen. „Vielleicht ist eine Freundin der Grund.“
Meine Großmutter warf mir einen scharfen blauen Blick zu. „Ja, vielleicht.“
Ich stützte die Ellenbogen auf den Tisch und versuchte, leichthin zu klingen. „Ich nehme an, er hat etwa hundert Freundinnen. Er ist immer noch der bestaussehende Mann, den ich je gesehen habe. Bringt er seine Freundinnen mit nach Hause? Bist du mal einer begegnet …?“
„Oh, manchmal, wenn ich in London war … er bringt sie zum Abendessen mit, oder wir gehen ins Theater.“
„Hattest du geglaubt, er würde eine von ihnen heiraten?“
„Man weiß ja nie, nicht wahr?“ Ihre Stimme klang kühl, beinahe desinteressiert. „Sein Leben in London ist so verschieden von dem, das er hier führt. Elvie ist, wenigstens für Sinclair, eine Art Erholungskur … er trödelt einfach herum. Ich glaube, er ist ganz froh, von den durchfeierten Nächten und Spesenessen fortzukommen.“
„Es gab also niemand Besonderes? Kein Mädchen, das dir besonders gefiel?“
Meine Großmutter legte ihre Briefe hin. „Doch, es gab ein Mädchen.“ Sie nahm ihre Brille ab und sah aus dem Fenster, über den Garten, wo das Loch im Sonnenlicht eines weiteren vollkommenen Herbsttages blau funkelte. „Er hat sie in der Schweiz kennengelernt, beim Skilaufen. Ich glaube, sie haben sich oft gesehen, als sie nach London zurückkam.“
„Beim Skilaufen?“ fragte ich. „Hast du mir nicht ein Foto geschickt?“
„Stimmt, das habe ich, es war Silvester in Zermatt. Dort sind
sie sich begegnet. Ich glaube, sie hat an irgendwelchen Wettrennen oder so teilgenommen, weißt du, bei einem dieser internationalen Wettkämpfe, die da veranstaltet werden …“
„Dann muß sie sehr gut sein.“
„O ja, das ist sie. Sie ist recht berühmt …“
„Bist du ihr je begegnet?“
„Ja, Sinclair brachte sie zum Mittagessen mit ins Connaught, als ich in der Stadt war. Sie ist ein reizendes Mädchen.“ Ich nahm eine Scheibe Toast und begann, sie mit Butter zu bestreichen. „Wie heißt sie?“
„Tessa Faraday … du hast vielleicht von ihr gehört.“
Ich hatte von ihr gehört, aber nicht so, wie meine Großmutter glaubte. Ich sah den Toast an, den ich bestrich, und hatte plötzlich das Gefühl, mir würde übel, wenn ich ihn äße.
Nach dem Frühstück ging ich wieder nach oben, nahm meinen Klapprahmen mit den Familienbildern hervor und zog das Foto von Sinclair heraus, das meine Großmutter mir geschickt hatte und das ich in meiner Collage so angeordnet hatte, daß nur Sinclair zu sehen, seine Begleiterin jedoch verdeckt war.
Jetzt aber war ich ausschließlich an ihr interessiert. Ich sah ein kleines, schmales Mädchen mit dunklen Augen, sie lachte, ihr Haar hatte sie mit einer Schleife aus dem Gesicht gebunden, und sie trug dicke goldene Ringe in den Ohren. Sie hatte einen Hosenanzug aus Samt an, dessen Säume mit Stickerei eingefaßt waren, und Sinclair hielt sie im Arm. Beide waren eingewickelt und verstrickt in endlos lange festliche Luftschlangen. Sie sahen heiter und lebenslustig aus, sehr glücklich, und als ich mich an ihre bedrückte Stimme letzte Nacht am Telefon erinnerte, hatte ich plötzlich Angst um sie.
Die Tatsache, daß Sinclair so prompt nach Süden gefahren war – vermutlich um sie zu sehen –, hätte mich beruhigen sollen, aber irgendwie war ich nicht
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