Ende eines Sommers
beruhigt. Er war zu überstürzt abgefahren, zu geschäftsmäßig, ohne irgendwelche persönlichen Rücksichten zu nehmen, weder auf meine Großmutter noch gar auf mich. Widerstrebend erinnerte ich mich an seine Bemerkungen über Gibson, als er mit meiner Großmutter darüber diskutierte, ob der alte Wildhüter in den Ruhestand geschickt werden sollte. Mir wurde klar, daß ich unbewußt Entschuldigungen für Sinclair gefunden hatte.
Nun aber war es etwas anderes, und ich war gezwungen, mir gegenüber ehrlich zu sein. Das Wort „skrupellos“ kam mir in den Sinn. Wenn es um gewöhnliche Leute ging, konnte er vollkommen rücksichtslos sein. Ich machte mir Sorgen um dieses unbekannte Mädchen und hoffte nur, daß er auch mitfühlend sein konnte.
Aus der Halle rief meine Großmutter nach mir. „Jane!“
Ich schob die Bilder hastig in den Rahmen, stellte ihn wieder auf die Frisierkommode und ging zurück in den Flur.
„Ja?“
„Was hast du heute vor?“
Ich ging zum Treppenabsatz hinunter, setzte mich auf die Stufen und sprach von da aus mit ihr. „Ich gehe einkaufen. Ich muß mir ein paar Pullover besorgen, sonst sterbe ich vor Kälte.“
„Wohin willst du gehen?“
„Nach Caple Bridge.“
„Liebes, in Caple Bridge gibt es nichts zu kaufen.“ „Einen Pullover wird’s doch bestimmt geben.“
„Ich muß nach Inverness wegen einer Sitzung des Krankenhausausschusses. Warum fährst du nicht mit?“
„Weil David Stewart Geld für mich hat. Er hat die Dollars umgetauscht, die Vater mir mitgab. Und er sagte, er würde mich zum Essen einladen.“
„Wie nett! Aber wie kommst du nach Caple Bridge?“
„Ich nehme den Bus. Mrs. Lumley sagt, er fährt jede Stunde am Ende der Straße ab.“
„Nun, wenn du so sicher bist …“ Es klang zweifelnd. Sie stand da, eine Hand auf dem Geländerpfosten, nahm die Brille ab und betrachtete mich nachdenklich unter ihren feingeschwungenen Brauen hervor. „Du siehst müde aus, Jane. Es war gestern wirklich zuviel für dich, nach der ganzen Reise.“
„Nein, gar nicht. Es hat mir viel Spaß gemacht.“
„Ich hätte Sinclair drängen sollen, einen oder zwei Tage zu warten …“
„Aber dann hätten wir vielleicht das schöne Wetter verpaßt.“
„Ja. Vielleicht. Aber mir ist aufgefallen, daß du nichts zum Frühstück gegessen hast.“
„Das tue ich nie. Ehrlich.“
„Nun, du mußt darauf achten, daß David dir etwas Anständiges zu essen gibt.“ Sie drehte sich um, dachte an etwas anderes und wandte sich wieder mir zu. „Oh, und Jane – wenn du einkaufen gehst, warum läßt du dir nicht von mir einen neuen Regenmantel schenken? Du brauchst wirklich etwas Warmes zum Anziehen.“
Trotz allem mußte ich grinsen. Ich liebte es, wenn sie so zu voller Form auflief. Boshaft fragte ich: „Stimmt irgend etwas nicht mit dem, den ich habe?“
„Wenn du es unbedingt wissen willst, du siehst darin aus wie ein Landstreicher.“
„In den ganzen zehn Jahren, in denen ich ihn trage, hat das noch nie jemand zu mir gesagt.“
Sie seufzte. „Du wirst deiner Familie von Tag zu Tag ähnlicher“, sagte sie, ging zu ihrem Schreibtisch und schrieb einen Scheck aus, mit dem ich einen pelzgefütterten, bodenlangen Regenmantel mit Zobelkapuze hätte kaufen können, wenn mir zufällig der Sinn danach gestanden hätte.
In strahlendem Sonnenschein wartete ich am Ende der Straße auf den Bus, der mich nach Caple Bridge fahren sollte. Ich konnte mich nicht an einen Tag erinnern, der so hell und frisch und voller Farbe gewesen wäre. Es hatte in der Nacht ein wenig geregnet, so daß alles frisch gewaschen glänzte, und auf den feuchten Straßen spiegelte sich das Blau des Himmels. Die Hecken waren voller scharlachroter Hagebutten, das Farngestrüpp leuchtete golden, und das Laub hatte von tief Karminrot bis Buttergelb alle Farben angenommen. Die Luft, die von Norden herwehte, war klar und süß wie eisgekühlter Wein, sie hatte einen Biß, der darauf schließen ließ, daß weiter oben im Norden bereits der erste Schnee des Winters gefallen war.
Der Bus bog um die Kurve, hielt für mich an, und ich stieg ein. Er war vollgepackt mit Bauern, die nach Caple Bridge fuhren, um ihre wöchentlichen Einkäufe zu erledigen. Ein einziger Sitzplatz war noch frei, neben einer dicken Frau, die einen Korb auf den Knien trug. Sie hatte einen blauen Filzhut auf und war so korpulent, daß ich nur zur Hälfte auf dem Sitz Platz fand und jedesmal, wenn der Bus um eine Ecke bog, Gefahr lief, ganz
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