Ender 4: Enders Kinder
Wahrheit, die gewußt werden könnte, nur die Geschichte, von der wir uns einbilden, sie sei wahr, die Geschichte über sich selbst, von der sie uns erzählen, sie sei wahr, die Geschichte, die sie wirklich für wahr halten; und das alles sind Lügen.
Plikt stand da und übte verzweifelt ihre Ansprache, ohne Hoffnung neben Enders Sarg, obwohl er noch gar nicht in einem Sarg lag. Er lag immer noch auf einem Bett, und Luft strömte durch eine durchsichtige Maske in seinen Mund und Traubenzuckerlösung in seine Adern, und er war noch nicht tot. Nur stumm.
»Ein Wort«, flüsterte sie. »Ein Wort von dir.«
Enders Lippen bewegten sich.
Plikt hätte sofort die anderen rufen sollen. Novinha, die erschöpft vom Weinen war – sie wartete unmittelbar außerhalb des Zimmers. Und Valentine, seine Schwester; Ela, Olhado, Grego, Quara, vier seiner Adoptivkinder; und viele andere, im Empfangszimmer und davor, die einen Blick auf ihn werfen wollten, ein Wort hören, seine Hand berühren. Wenn sie die Kunde zu anderen Welten hätten übermitteln können, wie sehr würden sie trauern und wehklagen, die Menschen, die sich an seine Ansprachen während der dreitausend Jahre seiner Reisen von Welt zu Welt erinnerten! Wenn sie seine wahre Identität verkünden könnten – Sprecher für die Toten, Autor der beiden – nein, der drei – großen Bücher der Verkündigung; und Ender Wiggin, der Xenozide, beide Persönlichkeiten in demselben schwachen Fleisch – oh, was für Schockwellen würden sich dann durch das von Menschen bewohnte Universum ausbreiten!
Sich ausbreiten, immer weitere Kreise ziehen, abflachen, verebben. Wie alle Wellen. Wie alle Schocks. Eine Fußnote in den Geschichtsbüchern. Ein paar Biographien. Verbesserte, überarbeitete Biographien eine Generation später. Einträge in Enzyklopädien. Anmerkungen am Schluß von Übersetzungen seiner Bücher. Das ist die Stille, in der alle großen Leben verklingen.
Seine Lippen bewegten sich.
»Peter«, flüsterte er.
Dann verstummte er wieder.
Was bedeutete das? Er atmete noch, die Instrumente veränderten sich nicht, sein Herz schlug weiter. Aber er rief nach Peter. Hieß das, daß er sich danach sehnte, das Leben des Kindes seines Geistes zu leben, des jungen Peter? Oder sprach er in einer Art von Delirium mit seinem Bruder, dem Hegemon? Oder noch früher mit seinem Bruder als kleinem Jungen? Peter, warte auf mich. Peter, habe ich das nicht gut gemacht? Peter, tu mir nicht weh. Peter, ich hasse dich. Peter, für ein Lächeln von dir würde ich sterben oder töten. Was war seine Botschaft? Was sollte Plikt über dieses Wort sagen?
Sie trat von seinem Bett zurück. Ging zur Tür, öffnete sie. »Tut mir leid«, sagte sie ruhig, als sie sich einem Zimmer voller Menschen, die sie nur selten sprechen gehört, und manchen, die noch nie ein Wort von ihr vernommen hatten, gegenübersah. »Er hat gesprochen, bevor ich jemand anderen rufen konnte, um es zu hören. Aber es könnte sein, daß er noch einmal spricht.«
»Was hat er gesagt?« fragte Novinha und erhob sich.
»Bloß einen Namen«, sagte Plikt. »›Peter‹.«
»Er ruft nach dem Ungeheuer, das er aus dem All mitgebracht hat, und nicht nach mir!« sagte Novinha. Aber es waren die Drogen, die die Ärzte ihr gegeben hatten; dies war es, was aus ihr sprach, dies war es, was weinte.
»Ich denke, er ruft nach unserem toten Bruder«, sagte die alte Valentine. »Novinha, willst du mit nach drinnen kommen?«
»Warum?« fragte Novinha. »Er hat nicht nach mir gerufen, er hat nach ihm gerufen.«
»Er ist nicht bei Bewußtsein«, sagte Plikt.
»Verstehst du, Mutter?« sagte Ela. »Er ruft nicht nach irgend jemandem, er spricht nur aus irgendeinem Traum heraus. Aber es ist immerhin etwas, er hat etwas gesagt, und das ist doch ein gutes Zeichen, oder?«
Nach wie vor weigerte Novinha sich, das Zimmer zu betreten. Darum waren es Valentine und Plikt und vier seiner Adoptivkinder, die um sein Bett herumstanden, als er die Augen aufschlug.
»Novinha«, sagte er.
»Sie grämt sich draußen«, sagte Valentine. »Bis zu den Kiemen mit Drogen vollgepumpt, fürchte ich.«
»Das ist schon in Ordnung«, sagte Ender. »Was ist geschehen? Mir scheint, ich bin krank.«
»Mehr oder weniger«, sagte Ela. »Nach allem, was wir sagen können, ist ›weggetreten‹ wohl die treffendste Beschreibung für die Ursache deines Zustands.«
»Du meinst, ich hatte so eine Art Unfall?«
»Ich meine, daß du anscheinend dem zu viel
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