Ender 4: Enders Kinder
einer gewaltigen tektonischen Umarmung. Sicher erzitterten die Berge, wenn sie sich trafen. Wang-mu spürte das Beben in ihrem eigenen Körper. Warum zittere ich? Nicht aus Furcht. Ich fürchte mich nicht vor diesem Mann. Er wird mir keinen Schaden zufügen. Und doch zittere ich, wenn ich sehe, wie er Grace Drinker umarmt. Ich will nicht, daß er sich mir zuwendet. Ich will nicht, daß er seinen Blick auf mich richtet.
Malu wandte sich ihr zu. Seine Augen brannten sich in ihre. Sein Gesicht blieb völlig ausdruckslos. Er nahm ihre Augen einfach in Besitz. Sie schaute nicht weg, aber ihr unverwandt auf ihn gerichteter Blick war weder Herausforderung noch Stärke, er war ganz einfach ihre Unfähigkeit, irgend etwas anderes anzusehen, während er ihre Aufmerksamkeit mit Beschlag belegte.
Dann sah er Peter an. Wang-mu wollte sich umdrehen und sehen, wie er reagierte, ob auch er die Macht in den Augen dieses Mannes spürte. Aber sie konnte sich nicht umdrehen. Nach einem endlos langen Augenblick, als Malu schließlich wegschaute, hörte sie Peter jedoch murmeln: »Scheißkerl«, und sie wußte, daß auch er, auf seine eigene grobe Art, beeindruckt war.
Malu brauchte viele lange Minuten, um auf einer Matte unter einem Dach Platz zu nehmen, das man erst an diesem Morgen für diesen Augenblick errichtet hatte und das, wie Grace ihnen versicherte, verbrannt werden würde, sobald Malu abreiste, damit kein anderer jemals wieder unter dem Dach sitzen würde. Dann wurden Malu Speisen gebracht; und Grace hatte sie auch darauf hingewiesen, daß niemand mit Malu essen oder ihm beim Essen zusehen würde.
Aber Malu schien nicht von den Speisen kosten zu wollen. Statt dessen winkte er Wang-mu und Peter zu sich heran.
Die Männer waren schockiert. Grace Drinker war schockiert. Aber Grace kam sofort zu ihnen und bedeutete ihnen näherzutreten. »Er ruft euch.«
»Sie sagten doch, wir könnten nicht mit ihm essen«, sagte Peter.
»Es sei denn, er fordert euch dazu auf. Aber wie kann er euch dazu auffordern? Ich habe keine Ahnung, was das bedeutet.«
»Will er uns vielleicht in eine Falle locken, damit man uns wegen eines Sakrilegs töten kann?« fragte Peter.
»Nein, er ist kein Gott, er ist ein Mensch. Ein heiliger Mann, ein weiser und großer Mann, aber ihn zu beleidigen ist kein Sakrileg, es schickt sich nur nicht, also beleidigt ihn nicht. Bitte kommt.«
Sie gingen zu ihm. Als sie ihm gegenüberstanden, die Speisen in Schüsseln und Körben zwischen sich, feuerte er einen Strom von Samoanisch ab.
Oder war es gar nicht Samoanisch? Peter wirkte verdutzt, als Wang-mu ihm einen raschen Blick zuwarf, und murmelte: »Jane versteht nicht, was er sagt.«
Jane verstand es nicht, dafür aber Grace Drinker. »Er spricht euch in der uralten heiligen Sprache an. Der, die keine englischen oder anderen europäischen Worte kennt. Die Sprache, in der nur zu den Göttern gesprochen wird.«
»Warum benutzt er sie dann uns gegenüber?« fragte Wang-mu.
»Ich weiß nicht. Er meint nicht, daß ihr Götter seid. Nicht ihr beiden, obgleich er sagt, ihr brächtet eine Göttin zu ihm. Er will, daß ihr Platz nehmt und zuerst von den Speisen kostet.«
»Können wir das tun?« fragte Peter.
»Ich bitte euch inständig darum, es zu tun«, sagte Grace.
»Kriege ich langsam den Eindruck, daß es für diesen Fall kein Drehbuch gibt?« sagte Peter. Wang-mu hörte ein leichtes Schwanken in seiner Stimme und begriff, daß sein Versuch, einen Scherz zu machen, nur gespielte Tapferkeit war, um seine Angst zu verbergen. Vielleicht war es das immer.
»Es gibt ein Drehbuch«, sagte Grace. »Aber nicht ihr schreibt es, und ich kenne es auch nicht.«
Sie setzten sich. Sie langten in jede Schüssel, kosteten aus jedem Korb, wenn Malu sie ihnen darreichte. Dann tunkte, nahm, kostete er nach ihnen, kaute, was sie gekaut hatten, schluckte, was sie geschluckt hatten.
Wang-mu hatte nur wenig Appetit. Sie hoffte, er erwartete nicht von ihr, daß sie die Portionen aß, die sie andere Samoaner hatte essen sehen. Sie würde sich übergeben müssen, lange bevor sie an diesen Punkt kam.
Aber das Mahl war anscheinend nicht so sehr ein Festmahl wie ein Sakrament. Sie kosteten von allem, aßen aber nichts ganz auf. Malu sprach in der Hochsprache zu Grace, und sie gab den Befehl in normaler Rede weiter; mehrere Männer kamen und trugen die Körbe davon.
Dann holte Graces Ehemann einen Krug hervor, in dem sich irgend etwas befand. Eine Flüssigkeit, denn Malu nahm ihn in
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