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Enders Schatten

Enders Schatten

Titel: Enders Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orson Scott Card
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über dem Wasser. Am anderen Ufer glitzerten die Lichter der Boomjesstraat wie am Sinterklaas-Tag. Die Wellen schlugen sanft wie flüchtige Küsse an die Pfähle.
    Er schaute hinunter ins Wasser. Etwas dümpelte dort im Wasser und stieß gegen den Kai.
    Bean starrte es eine Weile verständnislos an. Aber dann begriff er, dass er die ganze Zeit gewusst hatte, was es war, er hatte es nur nicht glauben wollen. Es war Poke. Sie war tot. Es war genauso, wie Bean befürchtet hatte. Alle auf der Straße würden glauben, dass Odysseus sie umgebracht hatte, auch wenn nichts bewiesen werden konnte. Bean hatte mit allem recht gehabt. Was immer zwischen Jungen und Mädchen geschehen mochte, es hatte nicht die Macht, Hass und Rachsucht eines Gedemütigten auszulöschen.
    Und als Bean dastand und ins Wasser hinunterschaute, wurde ihm eins klar: Ich muss entweder erzählen, was passiert ist, und zwar sofort, in dieser Minute noch, und zwar allen, oder ich muss mich entscheiden, niemals darüber zu sprechen, denn wenn Achilles auch nur ahnt, was ich heute Nacht gesehen habe, wird er mich auf der Stelle töten. Achilles wird einfach sagen: Odysseus hat wieder zugeschlagen. Dann kann er so tun, als würde er sogar zwei Tote rächen, wenn er Odysseus tötet.
    Nein, Bean konnte nur schweigen. So tun, als hätte er nicht gesehen, wie Pokes Leiche im Fluss trieb, das nach oben gewandte Gesicht im Mondlicht deutlich zu erkennen.
    Was für eine dumme Person! Es war dumm von ihr gewesen, Achilles’ Pläne nicht zu durchschauen, dumm, ihm überhaupt zu vertrauen, dumm, mir nicht zuzuhören. So dumm, wie es von mir gewesen war, mich umzudrehen und davonzugehen, statt einen Warnschrei auszustoßen und vielleicht Pokes Leben zu retten, indem ich ihr einen Zeugen verschaffe, den Achilles nicht hoffen konnte zu erwischen und daher nicht zum Schweigen bringen konnte.
    Es war Pokes Verdienst, dass Bean noch lebte. Sie war diejenige, die ihm einen Namen gegeben hatte. Sie hatte sich seinen Plan angehört. Und nun war sie dafür gestorben, und er hätte sie retten können. Sicher, er hatte ihr gleich gesagt, dass sie Achilles töten sollte, aber am Ende hatte sie recht gehabt, ihn auszuwählen – er war der einzige Schläger, der das alles hatte austüfteln und mit so viel Stil in Szene setzen können. Aber Bean hatte auch recht gehabt. Achilles war ein hervorragender Lügner, und nachdem er beschlossen hatte, dass Poke sterben sollte, hatte er angefangen, die Lügen aufzubauen, die den Mord vertuschen sollten – Lügen, die dafür sorgen würden, dass Poke allein zu ihm kam und er sie ohne Zeugen töten konnte; Lügen, um sich in den Augen der jüngeren Kinder ein Alibi zu verschaffen.
    Ich habe ihm vertraut, dachte Bean. Ich wusste von Anfang an, was für einer er war, und dennoch habe ich ihm vertraut.
    Ach, Poke, du armes, dummes, freundliches, anständiges Mädchen! Du hast mich gerettet, und ich habe dich enttäuscht.
    Aber es ist nicht nur meine Schuld. Sie ist diejenige, die allein zu ihm gegangen ist.
    Weil sie mein Leben retten wollte? Was für ein Fehler, Poke, an jemand anderen als an dich selbst zu denken!
    Werde ich jetzt ebenfalls sterben, weil sie sich so dumm angestellt hat?
    Nein, ich werde wegen meiner eigenen verdammten Fehler sterben.
    Aber nicht heute Nacht. Achilles hatte noch keinen Plan geschmiedet, um Bean irgendwo allein zu treffen. Aber wenn Bean von nun an nachts wach lag und nicht schlafen konnte, würde er daran denken, dass Achilles wartete. Sich Zeit ließ. Bis zu dem Tag, an dem auch Bean sich im Fluss wiederfinden würde.
    Schwester Carlotta versuchte, einfühlsam zu sein, denn diesen Kindern war sicher schrecklich zu Mute, nachdem vor Kurzem eines von ihnen erwürgt und in den Fluss geworfen worden war. Aber andererseits war Pokes Tod nur ein Grund mehr, mit den Tests weiterzumachen. Achilles war noch nicht wieder aufgetaucht – da dieser Odysseus schon einmal zugeschlagen hatte, war es unwahrscheinlich, dass Achilles aus seinem Versteck kommen würde. Also blieb Schwester Carlotta nichts anderes übrig, als mit Bean weiterzumachen.
    Anfangs war der Junge zerstreut und schlug sich nicht besonders gut. Schwester Carlotta konnte nicht verstehen, dass er sogar den grundlegenden Teil der Prüfung verdarb, wenn er doch so klug war, dass er sich selbst auf der Straße das Lesen beigebracht hatte.

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