Enders Schatten
liefen.
»Odysseus treibt sich irgendwo herum und gibt damit an, was er vorhat.«
Schwester Carlotta wusste Bescheid, wollte es aber nicht wissen. »WeiÃt du denn, wer sie getötet hat?«
»Ich habe ihr gesagt, sie soll ihn umbringen. Ich habe ihr gesagt, dass er der Falsche ist. Ich habe es ihm angesehen, als er da am Boden lag, dass er ihr nie verzeihen würde. Aber er ist kalt. Er hat so lange gewartet. Obwohl er nie Brot von ihr genommen hat. Das hätte sie eigentlich warnen sollen. Sie hätte nicht allein zu ihm gehen dürfen.« Jetzt begann er ernsthaft zu weinen. »Ich glaube, sie wollte mich beschützen. Weil ich ihr an diesem ersten Tag gesagt habe, dass sie ihn umbringen soll. Ich denke, sie wollte ihn dazu bringen, mich nicht zu töten.«
Schwester Carlotta versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie erschrocken sie war. »Glaubst du denn, dass Achilles eine Gefahr für dich darstellt?«
»Jetzt, nachdem ich es Ihnen gesagt habe, ganz bestimmt«, antwortete er. Und dann, nach einem Augenblick des Nachdenkens: »Aber ich war schon vorher in Gefahr. Er verzeiht nicht. Er zahlt immer zurück.«
»Dir ist doch sicher klar, dass Achilles auf mich und Hazie â ich meine Helga â einen ganz anderen Eindruck macht. Uns erscheint er ⦠zivilisiert.«
Bean sah sie an, als hätte sie den Verstand verloren. Das bedeutet es also, zivilisiert zu sein? Dass man warten kann, um zu kriegen, was man will?
»Du willst aus Rotterdam weg und zur Kampfschule, damit du vor Achilles sicher bist.«
Bean nickte.
»Was ist mit den anderen Kindern? Glauben sie auch, dass er gefährlich für sie ist?«
»Nein«, antwortete Bean. »Er ist ihr Papa.«
»Aber nicht deiner. Obwohl er Brot von dir genommen hat.«
»Er hat sie umarmt und geküsst«, sagte Bean. »Ich habe sie auf dem Kai gesehen, und sie hat sich von ihm küssen lassen, und dann hat sie etwas darüber gesagt, was er versprochen hat, also bin ich davongegangen, aber dann habe ich es bemerkt und bin zurückgelaufen, und ich kann nicht lange weg gewesen sein, nur so lange, wie es dauert, vielleicht sechs Blocks weit zu laufen, und sie war tot, und ihr Auge war ausgestochen, und sie trieb im Wasser und stieà gegen den Kai. Er kann einen küssen und dann töten, wenn er einen nur genug hasst.«
Schwester Carlotta trommelte mit den Fingern auf den Schreibtisch. »Was für ein Dilemma.«
»Was ist ein Dilemma?«
»Ich wollte auch Achilles testen. Ich dachte, er könnte ebenfalls in die Kampfschule gehen.«
Beans ganzer Körper spannte sich an. »Dann schicken Sie mich nicht hin. Er oder ich.«
»Glaubst du wirklich ⦠« Ihre Stimme verklang. »Glaubst du, er würde versuchen, dich dort zu töten?«
»Versuchen?« Seine Stimme troff vor Hohn. »Achilles versucht so etwas nicht nur.«
Schwester Carlotta wusste, dass der Charakterzug, von dem Bean da sprach, diese skrupellose Entschlossenheit, zu den Dingen gehörte, nach denen sie in der Kampfschule suchten. Es würde Achilles vielleicht attraktiver für sie machen als Bean. Und sie konnten dort mit solch mörderischer Gewalttätigkeit umgehen. Konnten sie nutzen.
Aber die Schläger auf der StraÃe zu zivilisieren war nicht Achillesâ Idee gewesen. Es war Bean, der daran gedacht hatte. Unglaublich, dass ein so kleines Kind eine solche Idee haben und umsetzen konnte. Dieses Kind war, wonach sie suchte, nicht der andere, der für kalte Rache lebte. Aber eins war sicher: Es wäre falsch, beide zu empfehlen. Obwohl sie den anderen sicher in eine Schule hier auf der Erde bringen und damit von der StraÃe holen konnte. Sicher würde Achilles wirklich zivilisiert werden, wenn er die StraÃe hinter sich hätte, wo Verzweiflung die Kinder dazu trieb, einander so scheuÃliche Dinge anzutun.
Dann fiel ihr auf, was für ein Unsinn das war. Nicht die Verzweiflung der StraÃe hatte Achilles getrieben, Poke umzubringen, sondern Stolz. Er war wie Kain, der seine Schande für Grund genug hielt, seinen Bruder umzubringen. Er war wie Judas, der nicht davor zurückschreckte zu küssen, bevor er tötete. Wie hatte sie sich nur einbilden können, das Böse lieÃe sich behandeln, als wäre es ein rein mechanisches Produkt von Entbehrungen? Alle Kinder auf der StraÃe hatten Angst und Hunger, waren hilflos und
Weitere Kostenlose Bücher