Endless: Roman (German Edition)
mehr zur Arbeit erschien und die Kinder in der Schule fehlten. Die Großmutter hat die Polizei in Illinois eingeschaltet, und sie hat
im Hotel nachgefragt. Dort hatte man vermutet, dass die Familie einfach abgehauen wäre …«
»Gib mal her.« Holtzman riss ihm die Akte aus der Hand. »Das kann nicht möglich sein. Dann hätten doch die Medien darüber berichtet. Jemand entführt Touristen aus Manhattan? Und gerade jetzt, wo das San-Gennaro-Straßenfest anfängt?«
»Nicht jemand«, korrigierte Alaric ihn. »Etwas.« Er legte die restlichen Aktenmappen auf den Tisch. »Wo sollten denn sonst all die Leichen sein? Mittlerweile müssten sie ja wohl schon anfangen zu stinken.«
Holtzman wurde leicht grün um die Nase, aber Alaric runzelte nachdenklich die Stirn. Dann hellte sich seine Miene auf. »Ich weiß. Wir fragen morgen Abend bei der Eröffnung Padre Caliente. Er weiß bestimmt, was wir tun sollen. Er weiß alles.«
Holtzman hatte bereits zum Telefon gegriffen. Er hob die Hand. »Raus! Verschwinde aus meinem Büro. Sofort!«
Alaric war bereits aus dem Gebäude heraus um den halben Block gelaufen, als ihm klar wurde, was Henrique Mauricios Ankunft für ihn und die gesamte Einheit bedeutete. Nichts Gutes, dachte er.
Sein Therapeut Dr. Fiske ermutigte Alaric immer, sich das schlimmste Szenario vorzustellen. Das sei gesund, behauptete der Arzt. Pessimisten lebten länger als Optimisten.
»Denn die Realität«, erklärte der Arzt gerne, »ist niemals auch nur annähernd so schlimm wie unsere Vorstellungskraft.«
»Ich weiß nicht, Doc«, hatte Alaric bei der letzten Sitzung
erwidert. »Können Sie sich etwas Schlimmeres vorstellen als Dämonen, die die Wahl haben, ob sie gut oder böse sein wollen?«
»Oh ja«, hatte Dr. Fiske fröhlich geantwortet. »Es gibt vieles, was schlimmer ist. Schließlich könnten sie sich ja dafür entscheiden, gut zu sein.«
An diesem Punkt war Alaric aufgestanden und gegangen. Wenn er dageblieben wäre, hätte er vielleicht mit der Faust die Rigipswand in der Praxis durchschlagen. Oder das Gesicht des Arztes.
Alaric verbrachte den Abend nach seinem Treffen mit Abraham Holtzman damit, dass er sich zahllose schlimme Szenarien vorstellte, die nach Bruder Henriques Versetzung nach Manhattan eintreten konnten.
Das war der Grund, warum er sich bis weit nach Mitternacht am Punchingball in seiner Wohnung abreagieren musste. Danach duschte er erschöpft und ging ins Bett, wo ihn Träume von Lucien Antonescu quälten, der sich dafür entschieden hatte, gut zu sein. In einem Traum lag er im hellen Sonnenschein auf dem Rasen im Central Park, mit dem Kopf in Meena Harpers Schoß, was natürlich unmöglich war, da der Fürst der Finsternis zu Staub zerfallen würde, wenn er mit der Sonne in Berührung käme.
Meena lachte. Lucien Antonescu küsste ihre Haare, die lang und dunkel waren und aus irgendeinem Grund immer in Luciens Gesicht fielen.
Er war erleichtert, als ihn am nächsten Morgen in aller Herrgottsfrühe sein Handy weckte.
Er nahm ab und hörte die Stimme seines Chefs, der sagte: »Meena Harper hat Probleme.«
Etwas zog sich in seiner Brust zusammen, und das lag sicher nicht daran, dass er zu hart trainiert hatte.
Es fiel ihm schwer, sich vorzustellen, es könne noch schlimmer kommen, aber dann sagte Holtzman die Worte New Jersey und Ich fahre.
Doch als er einen Augenblick später Meena Harper vor der Polizeiwache in Freewell, New Jersey, aus einem Taxi steigen sah, in einem ihrer viel zu engen Kleider – dem schwarzen mit den kleinen rosa Rosen darauf –, die sie so gerne trug, stellte er fest, dass das schlimmste Szenario, das er sich vorgestellt hatte, der Wirklichkeit nicht im Entferntesten gerecht wurde.
Um ihren Hals trug sie einen rosa Schal.
7
Meena erwachte vom Schrillen ihres Handys und blickte auf den Digitalwecker neben ihrem Bett. Es war erst sechs Uhr morgens. Vor acht Uhr brauchte sie nicht aufzustehen, weil sie so nahe an ihrem Arbeitsplatz wohnte. Es musste schon etwas passiert sein, damit jemand so früh anrief.
Es war in der Tat etwas passiert. Das wusste sie in der Minute, in der sie nach ihrem Handy griff und die Vorwahl von New Jersey sah.
Meena kannte niemanden mehr, der in New Jersey lebte. Ihre Eltern waren nach Florida gezogen.
Ihr blieb beinahe das Herz stehen.
»Wer zum Teufel ist das?«, fragte ihr Bruder. Er kam mit nacktem Oberkörper aus seinem Zimmer geschlurft und stand schläfrig blinzelnd in der Tür. Auch Jack Bauer war aus
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