Endless: Roman (German Edition)
starker Regenguss reichte aus, und dann …
Chaos. Keller wurden überflutet. U-Bahn-Schienen standen unter Wasser. Der Bach strömte mitten über die Straßen, als sei er nach Jahren der Gefangenschaft endlich freigelassen worden.
Da man ihn weder mit Steinmauern noch mit Pflaster eindämmen konnte, kam ein junger Ingenieur auf die Idee, den Bach in Rohre zu leiten, die in einen Brunnen führten, der den Hof einer katholischen Schule schmückte. Seine Verlobte hatte dort ihren Abschluss gemacht, und ihre stolzen Eltern hatten ihn gestiftet.
Als jedoch der Brunnen eingeweiht werden sollte, gab es völlig unerwartet ein Unwetter.
Und als sich die Verlobte bückte, um den Brunnen anzuschalten, schoss das Wasser mit solcher Wucht aus dem Fuß der Statue der Jungfrau Maria – es sollte eine Nachbildung der wundersamen Erscheinung sein, die die heilige Bernadette in Lourdes gehabt hatte –, dass ein Stück der Bronzestatue abbrach und sich in den Schädel des jungen Mädchens bohrte. Es war auf der Stelle tot.
Der entsetzte Ingenieur floh aus der Stadt, und die Rohre, die zum Bach führten, wurden mit Zement gefüllt, damit der Brunnen nie wieder in Betrieb genommen werden
konnte. Die fußlose Statue der Jungfrau Maria sitzt heute noch auf dem vertrockneten Brunnen, ein Zeugnis dafür, dass ein Mann glaubte, über die Natur triumphieren zu können.
Im darauffolgenden Jahrhundert wurde der Bach – und der Grund für die fehlenden Füße der Jungfrau Maria – so gut wie vergessen. Nur die Haus- und Ladenbesitzer in der Gegend fragten sich, warum bei jedem Regen ihre Keller überflutet wurden. Und die Kammerjäger stellten fest, dass in den Restaurants entlang dem unterirdischen Wasserlauf die Nachfrage nach Rattenfallen stieg.
Auch Lucien Antonescu hatte den Bach nicht vergessen.
Mit der Zeit hatte das Teufelswasser mit seinem ständigen An- und Abschwellen unterirdische Höhlen gegraben, die so groß waren, dass ein Mann sich darin frei bewegen konnte.
Diese geheimen Höhlen unter den Straßen von Greenwich Village waren ein beliebter Zufluchtsort für viele Geschöpfe – vor allem für diejenigen, die das Licht scheuten.
Aber das war noch nicht alles.
Was kaum jemand – noch nicht einmal die Schädlingsbekämpfer – wusste, war, dass nicht nur Ratten sich in den dunklen Gängen zu Hause fühlten. Alle Arten von Wesen hausten hier … auch einige, die theoretisch gar nicht am Leben waren.
Weil sich die wenigsten an die Existenz des Minetta-Bachs erinnerten, fand auch kein Mensch den Weg in die unterirdischen Höhlen, die in keiner Weise mit dem Labyrinth von benutzten und unbenutzten U-Bahn-Tunnels, Dampf-, Gas- und Stromleitungen verbunden waren,
die sich unter Manhattan ausbreiteten. Man entdeckte sie nur, wenn das Wetter ungewöhnlich stürmisch und nass war …
Lucien Antonescu hatte sich bei seinen zahlreichen Besuchen in der Stadt immer schon magnetisch vom Minetta-Bach angezogen gefühlt.
Und das nicht nur, weil er als Geschöpf der Dunkelheit Kraft aus dieser dämonischen Quelle schöpfte, sondern weil er bewunderte, wie hartnäckig sich der Wasserlauf den Plänen der Menschen widersetzt hatte.
Es war ihm nie in den Sinn gekommen, dass auch er eines Tages, wie der junge Ingenieur, für seine Arroganz bezahlen müsste, denn hatte er nicht auch geglaubt, er könne die Natur kontrollieren? Nur dass es in seinem Fall kein Bach, sondern eine Frau gewesen war.
Aber die Frau, die er erwählt hatte, war genauso schwer zu bändigen wie eine unterirdische Quelle.
Und obwohl sie niemanden getötet hatte – im Gegenteil, sie hatte die Gabe, den Tod vorherzusehen –, hatte auch Meena sich letztendlich von ihm abgewandt.
Die Wirkung auf Lucien war verheerend gewesen.
Deshalb lebte er zurzeit in den Höhlen des Minetta-Bachs und hoffte, die Quelle würde ihn mit dem versorgen, was er am meisten brauchte … wenn er sie schon nicht haben konnte. Wenn er wirklich dazu bestimmt war, der Fürst alles Bösen zu sein, dann würde ihm der Wasserlauf vielleicht dazu verhelfen, wirklich böse zu werden.
Auf diesem Gebiet hatte er immer Schwierigkeiten gehabt. Aber eine uralte Quelle namens Teufelswasser, die
das Leben von Kindern und der wunderschönen Verlobten eines Mannes genommen hatte, konnte dieses Problem doch bestimmt lösen.
Und da der Bach zufällig unter den Straßen entlangfloss, in denen Meena jetzt lebte und arbeitete, wo er sie beobachten und beschützen konnte, ohne dass sie ihn
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