Endless: Roman (German Edition)
fürchten würde. »Du … du … schienst …«
»Wir dachten, du wärst tot«, warf Mary Lou ein. »Also, du bist ja natürlich schon tot. Deshalb wussten wir nicht, was los war. Du siehst schrecklich aus. Warum lebst du in einer Höhle?«
Lucien blickte von Mary Lou zu ihrem Mann, der vor Verlegenheit völlig erstarrt war. Lucien dachte unwillkürlich, dass Emil in seiner Ehe zumindest eine Sorge erspart blieb: Er brauchte sich nie Gedanken darüber zu machen, was seine Frau hinter seinem Rücken über ihn sagen könnte. Mary Lou trug ihr Herz auf der Zunge und sprach immer aus, was sie gerade dachte.
»Lass das, Mary Lou«, wies Emil sie zurecht und warf seiner Frau einen wütenden Blick zu. Zu Lucien sagte er: »Sire, du weißt, ich wäre nie in deine Privatsphäre eingedrungen, wenn nicht eine dringende Angelegenheit es erforderlich machen würde. Ich konnte nicht mehr warten bis zu unserem wöchentlichen Anruf. Ich hoffe, es macht dir nichts aus …«
»Nein, keineswegs«, erwiderte Lucien gnädig, auch wenn er innerlich kochte. »Ich freue mich, euch beide zu sehen. Darf ich euch etwas zu trinken anbieten?« Er erhob sich von seiner Couch und ging zu seinem Weinregal. »Das Gute an einer Höhle ist, dass meine Sammlung immer die perfekte Temperatur hat.«
»Verzeihung, Mylord«, sagte Emil entschuldigend. Der Blick, den er Mary Lou zuwarf, hätte sie erdolcht, wenn sie ihm überhaupt Beachtung geschenkt hätte. Aber sie hatte
nur Augen für Lucien. »Ich weiß nicht, was du gehört hast, aber Mary Lou … nun, sie macht sich eben Sorgen um dich. Wir beide machen uns Sorgen. Und natürlich ist sie noch sehr jung. Manches versteht sie eben einfach nicht …«
»Ich bin über hundertfünfzig Jahre alt«, unterbrach Mary Lou ihn. »Das mögen ja für euch Peanuts sein, aber ich bin schließlich schon eine Weile dabei …«
»Ich glaube«, sagte Emil nervös, »sie meint, Sire, dass …«
»Leg mir keine Worte in den Mund, Emil«, warnte Mary Lou ihn. »Ich sage es jetzt einfach. Jemand muss es ja tun. Fürst, ich begreife es schon. Ich muss gestehen, dass ich mir Vorwürfe mache und mir die Schuld an allem, was passiert ist, gebe. Wenn ich Meena Harper an jenem Abend nicht zum Essen eingeladen hätte, dann hättet ihr euch nie kennengelernt, und die ganze schreckliche Geschichte wäre nie passiert …«
Sie machte eine dramatische Pause, als müsse nun jemand einwerfen: Oh nein, Mary Lou. Du warst überhaupt nicht schuld.
Aber Lucien zog nur die Augenbrauen hoch, und Emil starrte sie an, als würde er sie am liebsten erwürgen.
Leider wäre das vergebliche Liebesmüh gewesen, denn Mary Lou war bereits kurz nach dem Bürgerkrieg gestorben, als sie sich in Emil verliebt hatte. Lucien vermutete, dass er ihr Dahinscheiden beschleunigt hatte, doch sie schien es ihm nicht übelzunehmen.
»Aber wenn ich es nicht getan hätte«, fuhr Mary Lou fort, »wäre Lucien weiter durch die Ewigkeit gegangen, ohne jemals zu erfahren, was wahre Liebe ist. Wie hättest du dich dann wohl gefühlt?«
»Vermutlich bedeutend besser, als ich mich in den letzten sechs Monaten gefühlt habe«, erwiderte Lucien.
»Oh.« Mary Lou sah ihn niedergeschlagen an.
»Mary Lou« – Emil wurde immer ärgerlicher –, »seine Lordschaft und ich müssen etwas ungeheuer Wichtiges miteinander besprechen, und ich glaube nicht, dass du dich dafür interessierst. Hattest du nicht gesagt, du wolltest einkaufen gehen?« Er schaute Lucien an. »Verzeihung, Mylord. Ich hatte sie inständig gebeten, nicht mitzukommen.«
Mary Lous Unterkiefer fiel herunter. »Das stimmt doch gar nicht«, hielt sie dagegen. »Du hast mich gebeten mit zukommen. Du weißt doch, wie sehr du Höhlen hasst.« Sie warf Lucien einen Blick zu. »Jedenfalls tut es mir sehr leid. Ich könnte Meena umbringen, wirklich. Ich weiß, ich habe alles falsch gemacht, und du bezahlst jetzt den Preis dafür. Ich kann nicht verstehen, warum sie die Arbeit in der Geheimen Garde der Unsterblichkeit vorzieht – schließlich könnte sie dann mit dem Mann zusammen sein, den sie liebt.«
»Mary Lou«, stieß Emil hervor und wies mit dem Kopf bedeutungsvoll in die Richtung, aus der sie gekommen waren.
»Nun, es tut mir leid«, sagte sie. »Emil meint, ich rede zu viel. Aber ich wollte nur sagen, dass ich jederzeit alles tun würde, um zu helfen. Und du siehst so aus, als könntest du es brauchen.« Sie ergriff ihre Birkin und stand auf. »Ich gehe jetzt wohl besser
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