Endless: Roman (German Edition)
dass du in der Stadt bist – du weißt ja, dass ich dir davon abgeraten habe. Aber dann fiel mir ein, wie gerne du immer zu diesem Wasserlauf gegangen bist. ›Nein, das ist doch nicht möglich‹, habe ich gedacht. Aber es stimmte tatsächlich. Mylord« – er schüttelte den Kopf –, »ich verstehe
deine Beweggründe, wirklich. Und ich respektiere sie. Aber es muss noch eine andere Möglichkeit geben. Einen anderen Ort, nicht so nahe an der Geheimen Garde, an ihr, wo du …«
Lucien schüttelte den Kopf. »Nein. Das ist der richtige Ort. Ich spüre es, Emil. Ich muss zugeben, ich hatte einen leichten Rückfall. Gestern Abend, als Meena angegriffen wurde, hatte ich eine … Auseinandersetzung. Sie hat mich mehr Kraft gekostet, als ich erwartet hatte. Seit der Sache in der Sankt-Georgs-Kathedrale bin ich nicht mehr so stark gewesen wie früher. Aber ich erhole mich stetig, und bald, hoffe ich, kann ich …«
»Nein.« Emil griff in die Jackentasche und zog ein Pamphlet heraus, das er Lucien reichte. »Du musst hier weg. Auf der Stelle.«
Lucien blickte auf das rotgoldene Schriftstück, das eine neue Ausstellung im Metropolitan Museum of Art ankündigte. Vatikanschätze: eine Reise durch Glauben und Kunst. »Was hat das mit mir zu tun?«
»Auf der Ausstellung werden seltene Kunstobjekte und historische Dokumente gezeigt, die die Entwicklung der Kirche und des Papsttums dokumentieren«, erklärte Emil. »Es ist eine der größten Sammlungen, die der Vatikan jemals auf der ganzen Welt zeigen wird. Sie umfasst mehr als fünfhundert Objekte, von denen viele noch nie in der Öffentlichkeit gezeigt wurden. Der erste Ausstellungsort ist das Metropolitan Museum of Art.«
»Ich bin nicht besonders erpicht darauf, diese Ausstellung zu sehen«, sagte Lucien. »Aber ich verstehe trotzdem nicht, wieso sie mich in Gefahr bringt.«
»Lucien, ich habe mir den Katalog angesehen. Eins der ausgestellten Objekte stammt aus der Zeit deines Vaters, vor seinem Tod. Seinem ursprünglichen Tod. Es ist ein besonders wertvolles Manuskript.«
Lucien blickte ihn fragend an. »Und?«
»Es handelt sich um ein Stundenbuch aus dem fünfzehnten Jahrhundert, das angeblich aus der Gegend von Schloss Poenari stammen soll … und der Beschreibung nach war es das Geschenk eines Mannes an eine junge Prinzessin, anlässlich ihrer Verlobung.«
Lucien starrte ihn an. Hatte er Emil richtig verstanden? Er hatte sich in der letzten Zeit viel im Untergrund aufgehalten, hatte in der Dunkelheit gelebt … die Dunkelheit aufgesogen, um eins mit ihr zu werden.
»Das Stundenbuch meiner Mutter?«, krächzte er schließlich. »Wie ist das möglich? Es ging verloren, als ich von den Osmanen gefangen genommen wurde, bevor mein Vater …« Er brach ab. Die Erinnerung daran, was sein Vater mit ihm und auch mit Emil gemacht hatte, war für sie beide zu schmerzvoll, um sie auszusprechen. Luciens Vater hatte sie zu dem gemacht, was sie jetzt waren.
Und danach hatte er Zehntausende von menschlichen Leben ausgelöscht, wie Wissenschaftler schätzten. Allerdings wusste jeder, der damals dabei gewesen war, dass die Zahl wesentlich höher war.
Lucien hatte fünfhundert Jahre lang geschworen, er würde niemals so werden wie sein Vater.
Aber in der letzten Zeit war ihm klar geworden, dass er das, was er wollte, nur bekommen würde, wenn er ein bisschen mehr wie sein Vater werden würde.
Emil hustete. »Ja«, sagte er. »Nun, ich erwähne es nur, weil mir scheint, dass …«
»Der Vatikan hat es?« Lucien war immer noch fassungslos. »Er hat es die ganze Zeit über gehabt?«
»Es waren unruhige Zeiten«, entgegnete Emil beruhigend. »Vor allem, nachdem dein Vater … nun.« Er schwieg taktvoll.
Lucien sprang auf und ging auf und ab.
»Dieses Buch«, sagte er. »Gestern Abend hat Meena davon geredet.«
»Aber das bedeutet …« Emil blickte ihn entsetzt an. »Mylord, du weißt, was das bedeutet. Wenn es sich in der Sammlung befindet, kann es nur bedeuten, dass sie etwas damit zu tun hat.«
»Nein«, erwiderte Lucien. »Das ganz bestimmt nicht. Sie hat gesagt, sie habe es im Traum gesehen.«
Lucien ballte die Fäuste und öffnete sie wieder. Er war sich der Geste kaum bewusst. Die einzig glückliche Erinnerung an seine Kindheit bestand in diesem Buch. Seine Mutter hatte ihm damit Lesen beigebracht.
Deshalb hatte er Meenas Traum so verstörend gefunden. Die Szene, die sie beschrieben hatte – die dunkelhaarige Frau, die mit einem kleinen Jungen am
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