Endless: Roman (German Edition)
egoistisch sein?«
»Egoistisch?« Mary Lou blickte sie erstaunt an. »Ich glaube nicht, dass er egoistisch ist. Ich habe dir doch gesagt, er ist verrückt nach dir. Er will dich sehen, und du bist hier. Wenn es egoistisch von ihm ist, mich um Hilfe zu bitten, nun, dann ist es vielleicht so, aber schließlich ist doch alles eigentlich meine Schuld. Das habe ich ihm auch gesagt. Ich meine, ich habe euch schließlich einander vorgestellt …«
»Aber ich glaube, es steckt mehr dahinter«, unterbrach Meena sie. »Mehr, als dass er nur verrückt nach mir ist. Mary Lou, ich mache mir Sorgen. Irgendetwas stimmt nicht mit ihm. Ich habe gestern Abend versucht, mit ihm darüber zu sprechen, aber er wollte nichts sagen.«
»Oh.« Mary Lou tupfte sich Lipgloss auf die Lippen. »Das.«
Meena starrte sie an. »Weißt du, was ich meine?«
»Oh, ich weiß genau, was du meinst. Aber du wirst wohl kein Glück haben, wenn du ihn zum Reden bringen willst. Ich habe es ohne Erfolg bei beiden versucht – bei ihm und
bei Emil. Ich meine, warum lebt der Fürst der Finsternis in einer Höhle? Das war alles, was ich wissen wollte. Aber glaubst du, sie haben es mir gesagt? Kein Wort.«
»Eine Höhle?« Meena war fassungslos. »Lucien lebt in einer Höhle?«
»Ja, du hast mich schon richtig verstanden. Aber glaubst du, mir erzählt einer, warum? Du lieber Himmel, nein. Männer erzählen einem nie was, oder? Sie sind wie Babys, nicht wahr? Sie glauben, alles dreht sich immer nur um sie. Lucien zum Beispiel glaubt, in dieser Ausstellung gehe es um ihn.«
Meena stand auf und trat neben sie an das Waschbecken. »Was?«
»Diese Ausstellung«, sagte Mary Lou. »Kannst du das glauben? Die gesamte Ausstellung. Er glaubt, der Vatikan hat sie arrangiert, um ihn hierherzulocken, damit sie ihn fangen können.«
Meena starrte Mary Lous Spiegelbild an. »Wovon redest du?«
»Ach, da wird irgendein altes Buch ausgestellt, das wohl früher einmal Luciens Mutter gehört hat. Und er muss es natürlich unbedingt wiederhaben. Warum, weiß ich nicht. Ich habe es mir angesehen. Es steht auf einem kleinen Sockel, und du bist wahrscheinlich daran vorbeigegangen. Ich habe es zuerst auch nicht gesehen. Es ist ganz winzig. Ich habe Emil gesagt, Lucien sollte sich doch besser eine schöne Gutenberg-Bibel kaufen oder so etwas Ähnliches, aber nein, es muss unbedingt dieses Buch sein, offenbar, weil es seiner Mom gehört hat. Na ja, du weißt ja, wie Männer mit ihren Müttern sind. Wenn ich bloß an Emils
Mutter denke. Zum Glück ist sie ja gestorben, bevor ich überhaupt geboren wurde. Und mit Luciens Mutter ist es sogar noch schlimmer, denn sie …«
»… hat sich umgebracht«, murmelte Meena. Plötzlich hatte sie das Gefühl, als ob ihr jemand etwas Kaltes über den Rücken schütten würde. Als Teenager war ihr das tatsächlich häufiger passiert. Sie war kein gern gesehener Gast auf Partys gewesen, da sie anderen vorausgesagt hatte, was passieren konnte, wenn man Alkohol trank und dann Auto fuhr … Warnungen, die meistens eintrafen.
»Oh, ich weiß. Ich habe davon gehört«, entgegnete Mary Lou. »War das nicht schrecklich? Sprang einfach aus dem Fenster, als sie hörte, dass die Türken einmarschiert waren. Nun, ich muss ehrlich sagen, ich würde auch aus dem Fenster springen, wenn die Türken einmarschieren würden, sie haben nämlich damals mit ihren weiblichen Gefangenen Dinge gemacht, die nicht so schön waren. Emil hat mir da ein paar Geschichten erzählt … glaub mir, das willst du gar nicht wissen. Lucien hat den Tod seiner Mutter nie verwunden. Und sein Vater wohl auch nicht. Emil hat gesagt, Luciens Mutter sei eine Prinzessin gewesen und eine ganz besondere Frau. Die Leute sagten sogar, sie sei …«
»Ein Engel«, beendete Meena den Satz für sie und setzte sich wieder.
Das war alles ihre Schuld. Ganz allein ihre Schuld.
Wenn es wirklich stimmen sollte – und es stimmte wohl –, wer hatte bei der Vatikanischen Apostolischen Bibliothek nach dem Buch gefragt und sie überhaupt erst
darauf aufmerksam gemacht, dass es in ihrem Katalog stand?
Sie.
O Gott.
Und jetzt war Lucien hier, um das Buch seiner Mutter zurückzuholen.
Aber Alaric war auch hier … und alle anderen Spitzenkräfte der Geheimen Garde.
»Nun, ja!« Mary Lou schien sich zu freuen, dass Meena so gut über das Thema Bescheid wusste. »Ein Engel! Obwohl das natürlich nicht wirklich gestimmt haben kann. So etwas wie Engel gibt es ja gar nicht. Und außerdem, wie
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