Endless: Roman (German Edition)
Frau in der Illustration. War das Luciens Mutter?
Das Porträt, das sie einmal von Luciens Vater gesehen hatte – hier im Metropolitan Museum of Art –, hatte überhaupt keine Ähnlichkeit mit Lucien gehabt.
Aber je näher sie sich über die Illustration beugte, desto mehr sah sie eine Ähnlichkeit mit der Frau in ihrem Traum … und mit Lucien. Es lag nicht nur an den schwarzen Haaren, den düsteren Gesichtszügen oder der geschmeidigen Gestalt. Nein, sie erkannte die sanften Augen, und einen Zug von Humor – und Freundlichkeit – um den kleinen Mund, den sie noch nirgendwo gesehen hatte.
Sie glaubte auch nicht, dass sie es nur sah, weil sie es sehen wollte, denn eigentlich wollte sie es ja nicht sehen. Denn wenn es das Buch aus ihren Träumen war, das Buch, das sie aus dem Katalog angefordert hatte, dann konnte die Tatsache, dass der Vatikan es hier ausstellte und es ihr nicht geschickt hatte, nur bedeuten …
Nun, genau das, was Lucien – und sogar Alaric – gemeint hatten: Diese Ausstellung wurde tatsächlich nur zu einem einzigen Zweck veranstaltet … um den Fürsten der Finsternis aus seinem Versteck zu locken, damit die Geheime Garde ihn fangen konnte.
Sie musste Alaric unbedingt darüber informieren. Er hatte es die ganze Zeit über vermutet.
Aber es ging nicht. Sie konnte doch Lucien nicht in noch größere Gefahr bringen.
Außerdem schien Alaric völlig in das Gespräch mit Genevieve Fox vertieft zu sein. Oder vielmehr schien Genevieve Fox völlig in das Gespräch mit Alaric vertieft zu sein. Jetzt zog sie etwas aus ihrer Handtasche und …
Großer Gott. Es war ihr BlackBerry.
Genevieve Fox gab Alaric Wulfs Telefonnummer in ihren BlackBerry ein.
Sie gaben ein attraktives Paar ab. Beide waren sie so groß und blond. Meena fragte sich, warum ihr der Anblick einen Stich versetzte.
Doch sie hatte nun keine Zeit, darüber nachzudenken. Sie musste Lucien warnen und den Raum verlassen, ohne dass Alaric es merkte. Dann war ja seine Beschäftigung mit Genevieve Fox wenigstens zu etwas nütze.
Aber zunächst einmal musste sie Bruder Henrique loswerden, der immer noch auf sie einredete.
»Diese kleinen Bücher waren im fünfzehnten Jahrhundert ungeheuer beliebt«, erklärte er gerade. »Der Inhalt war mehr oder weniger immer gleich. Auszüge aus Kirchenliedern, die Stunden des Kreuzes, die sieben Buße-Psalmen, ein Kalender der kirchlichen Feiertage und verschiedene
Devotionalien. Dieses hier ist jedoch ein wenig ungewöhnlich. Es enthält auch Sternzeichen und die verschiedenen Mondphasen.«
»Sehr interessant«, murmelte Meena.
Meena konnte es nicht leugnen. Je länger sie die Illustration betrachtete, desto mehr glaubte sie, dass die Frau auf dem Bild die Frau aus ihrem Traum war … die Frau, die sich lieber in den Fluss gestürzt hatte, als sich von den Feinden ihres Mannes gefangen nehmen zu lassen. Und deshalb war aus Vlad Tepes Vlad der Pfähler geworden.
Diese Frau hatte Dracula geschaffen und seinen Sohn Lucien geboren.
Und weil Meena so viel Aufmerksamkeit auf ihr Stundenbuch gezogen hatte, war sie jetzt die Frau, die – wenn auch unabsichtlich – bald zur Gefangennahme und dem Untergang dieses Sohnes beitragen würde.
Sie musste gehen. Sie musste Lucien unbedingt warnen … Er musste so schnell wie möglich das Metropolitan Museum of Art verlassen …
»Entschuldigen Sie.« Bruder Henrique berührte sie am Arm. Erschreckt zuckte sie zusammen. Er blickte sie besorgt an. »Ist Ihnen nicht gut? Darf ich Ihnen etwas bringen? Ein Glas Wein vielleicht? Oder Wasser?«
»Ich … mir geht es gut«, erwiderte Meena. Bildete sie es sich ein, oder hatte sein Englisch sich in der letzten Stunde verbessert? »Mir ist gerade eingefallen, dass ich noch einen Anruf tätigen muss. Wenn Sie mich bitte entschuldigen würden …«
»Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus, dass ich es erwähne«, sagte Bruder Henrique, »aber Sie machen einen
unglücklichen Eindruck auf mich. Ich kann es Ihnen nicht verdenken, ich glaube, ich wäre auch unglücklich, wenn um mich herum alle sterben würden.«
»Ich versuche, den Tod zu verhindern«, antwortete Meena automatisch. Sie musste unbedingt den Saal verlassen, bevor Alaric sein Gespräch mit Genevieve Fox beendet hatte. »Die Zukunft ist bei niemandem gewiss. Sie hängt immer von den Entscheidungen ab, die wir treffen. Vielleicht kann ich ja dazu beitragen, dass jemand eine bessere Entscheidung trifft. Wenn Sie mich jetzt
Weitere Kostenlose Bücher