Endless: Roman (German Edition)
könnte ein Engel mit Dracula verheiratet gewesen sein? Ganz zu schweigen davon, dass sie ihm einen Sohn geboren hat. Aber trotzdem, sie muss unglaublich nett und lieb gewesen sein. Deshalb ist Luciens Vater, Vlad Tepes, auch durchgedreht, als sie tot war, und wurde zu ›Vlad dem Pfähler‹ …« Mary Lou zeichnete kleine Anführungszeichen in die Luft. »Und als ihm das auch nicht mehr reichte, verkaufte er seine Seele dem Teufel, damit er ewig leben konnte, und wurde – tada – Dracula …«
Meena schlug die Hände vors Gesicht. Aber Mary Lou schwadronierte immer weiter.
»… und dann gab er den Titel an Lucien weiter … obwohl, wenn du mich fragst, war Lucien von der Rolle nie so besonders begeistert. Ich glaube, er hätte lieber sein Stundenbuch gehabt. Es war das Einzige, was seine Mom ihm hinterlassen hat, aber wahrscheinlich ist es dem Feind in die Hände gefallen, als die Türken Schloss Poenari eingenommen haben. Lucien hat wohl gedacht,
es sei auf ewig verloren. Aber weißt du was? Es hat all die Jahre beim Vatikan gelegen. Und jetzt ist es hier in New York, und Lucien will es unbedingt wieder zurückhaben, ebenso wie dich … Meena? Meena! Wo bist du hingegangen?«
21
Meena war viel zu sehr mit ihrem eigenen Kummer beschäftigt gewesen, um die Ausstellung wirklich wahrzunehmen. Sie war wie im Nebel an ihr vorbeigerauscht.
Jetzt jedoch lief sie direkt zu dem kleinen Sockel, den Mary Lou beschrieben hatte.
Sie wollte nicht glauben, dass es das Buch war, das sie in ihren Träumen gesehen hatte … das Buch, von dem sie Lucien – und jedem, der ihr zuhören wollte – erzählt hatte.
Es konnte unmöglich das Buch sein, das sie bei der Vatikanischen Apostolischen Bibliothek angefordert hatte, weil sie fand, dass die Beschreibung – Stundenbuch, rumänischen Ursprungs, Mitte sechzehntes Jahrhundert – richtig klang, obwohl die wenigen Illustrationen im Internet nur vage den Bildern entsprachen, die sie in ihren Träumen gesehen hatte.
Wenn es nämlich so wäre, dann würde es bedeuten …
Sie wollte nicht darüber nachdenken, was es bedeuten würde. Sie musste sich mit eigenen Augen überzeugen. Sie musste sich ganz sicher sein, bevor sie überstürzt handelte.
Das Buch – das wirklich klein war, wie Mary Lou gesagt hatte – stand aufrecht in einem Glaswürfel. Eine exquisit illustrierte Seite war von den anderen getrennt worden
und wurde so beleuchtet, dass sie in einem beinahe überirdischen Licht schimmerte.
Dies lag daran, dass man tatsächlich Gold geschmolzen und in papierdünnen Blättern auf das Pergament gelegt hatte, aus dem das Manuskript bestand, wie Meena von ihren Recherchen wusste. Die wunderschön gezeichnete Illustration zeigte eine dunkelhaarige junge Frau in einem langen königsblauen Gewand, die ein Lamm in den Armen hielt.
Meena starrte die Frau an, die umgeben war von der leuchtenden Goldschicht, die noch zusätzlich mit Zeichnungen von Schmetterlingen und Blumen in den schönsten Farben verziert war. Ihren Recherchen zufolge waren für diese Farben Blei, Bleisulfat, Arsen und Lapislazuli gemischt worden, was ihnen ihre Leuchtkraft und Dauerhaftigkeit verlieh.
Es war nicht das Bild von der Frau und dem kleinen Jungen, das sie in ihren Träumen gesehen hatte, aber es hatte entschieden eine Anziehungskraft …
»Sehr hübsch, nicht wahr?«
Meena zuckte zusammen. Doch als sie aufblickte, sah sie nur Bruder Henrique. Auch er bewunderte das Manuskript.
»Äh«, sagte sie. »Ja.«
Sie blickte sich um. Die Party war immer noch in vollem Gange, obwohl es schon spät war. Am anderen Ende des Saals sah sie Alaric, ins Gespräch vertieft mit der Reporterin des New Yorker Nachrichtensenders, Genevieve Fox. Anscheinend war ihm bislang nicht aufgefallen, dass Meena noch nicht wieder zu ihm zurückgekommen war.
»Ich verstehe leider nicht besonders viel von diesen Büchern«, sagte Bruder Henrique bescheiden, »aber ich habe einmal gelesen, dass der Künstler, wenn ein Verlobter ein solches Buch in Auftrag gab – wie dieses hier –, irgendwo in seinem Werk ein Bild der Braut einfügte. Da dieses Buch angeblich einer schönen Prinzessin gehört haben soll, muss es wohl diese Frau hier gewesen sein.«
Er zeigte auf die Frau, die das Lamm in den Armen hielt.
»Sie hat keinen Heiligenschein, sehen Sie?«, sagte Bruder Henrique. »Also ist sie nicht die Jungfrau Maria oder eine Heilige. Und sie ist sehr attraktiv und reich gekleidet.«
Meena betrachtete die
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