Endless: Roman (German Edition)
gewusst, dass es so etwas wie Vampire und Dämonen überhaupt gab. Warum sollte es also so etwas wie Magie nicht geben?
Als jedoch die Türen des Aufzugs aufglitten, lag die Galerie zum Flügel des neunzehnten Jahrhunderts vor ihr,
wie immer. Dort war das Gemälde von Johanna von Orléans, das sie so gut kannte. Selig blickte sie in ihrem Bauernkittel in die Ferne, umringt von Heiligen, die ihr von ihrem wichtigen Schicksal erzählten.
Und vor dem Bildnis stand Lucien Antonescu und wartete auf sie.
Eine Welle des Verlangens nach ihm überschwemmte sie mit solcher Wucht, dass es ihr beinahe den Boden unter den Füßen wegriss.
»Meena«, sagte er. Seine Stimme klang brüchig. Seine Augen, so dunkel und leuchtend, waren die Augen der Frau im Manuskript seiner Mutter. »Ich wusste, dass du kommen würdest.«
Er trug einen grauen Pullover aus weicher Wolle, der sich um seine muskulöse Brust spannte. Die Ärmel hatte er hochgeschoben, so dass sie die glatte Haut seiner Unterarme sehen konnte.
Und seine dunklen Augen waren voller Liebe. Liebe für sie.
Sie schloss die Augen. Nein.
Es gab keine Magie. Und das hier war kein Traum. Es war real. Sie konnte die Zeit nicht zurückdrehen und den Schaden nicht wiedergutmachen, den ihre Beziehung so vielen anderen zugefügt hatte.
Sie konnte nur tun, was sie immer tat: Sie konnte versuchen, es richtig zu machen.
Aber wenn Lucien sie berührte, schaffte sie es nicht. Dann würde sie schwach werden, wie immer.
Sie drückte den Abwärtsknopf und wich an die hinterste Wand des Aufzugs zurück. Es war wichtig, so viel Distanz
wie nur möglich zwischen Lucien Antonescu und sich zu bringen. Als die Türen zuglitten, sagte sie: »Es tut mir leid, Lucien. Das war ein Fehler. Es ist eine Falle. Sie warten auf dich. Ich muss gehen.«
Aber er hatte andere Vorstellungen. Schnell wie ein Schatten bewegte er sich und streckte die Arme durch den Türspalt. Eine Sekunde später lagen seine großen Hände auf ihren Oberarmen und zogen sie aus dem Aufzug in die Galerie …
… so dicht an sich heran, bis er sie an seine stahlharten Brustmuskeln presste.
Sie war gefangen. Hinter ihr glitten die Aufzugtüren mit einem Ding zu. Es klang so, als würde die rationale Welt geschlossen.
Meena hob den Kopf und blickte ihn nervös an. In seinen dunklen Augen las sie zahllose Gefühle. Die Lippen hatte er fest zusammengepresst, und sein Gesichtsausdruck verriet seine Qual.
»Meena«, stieß er hervor, »was machst du da?«
»Lucien«, sagte sie atemlos, »du musst mir zuhören. Es ist nicht sicher …«
Doch er ließ sie gar nicht ausreden. Sein Mund senkte sich auf ihren, und sie wusste ganz genau, dass sie ihm von dem Moment an, wo sich ihre Lippen trafen, nicht mehr widerstehen konnte. Sie wollte es auch gar nicht mehr. In seiner Umarmung war sie machtlos. Sie schloss die Augen und ließ den Kopf an seinen starken Arm sinken.
Aber … Sekunden vergingen, und seine Lippen berührten ihre gar nicht. Stattdessen geschah … nichts.
Als sie die Augen öffnete, sah sie, dass er sie merkwürdig
anschaute. Er sah ihr jedoch nicht in die Augen oder auf den Mund, sondern auf ihren Hals.
Und sie sah auch – oder glaubte es zumindest – eine Spur von Rot in jeder Pupille.
»Was ist das?«, fragte er und fuhr mit dem Finger über das schwarze Lederband, an dem das silberne Kreuz hing, das Alaric ihr gegeben hatte.
Mit einem Schlag war sie wieder in der Realität angekommen. Was tat sie hier?
»Lucien«, sagte sie und ließ die Arme sinken, die sie instinktiv um seinen Hals geschlungen hatte, »du kannst nicht hierbleiben. Es ist viel zu gefährlich. Sie sind bereits hinter Mary Lou her. Du musst gehen …«
Er hatte den Blick nicht von ihrem Kreuz abgewandt.
Zwar war das Licht in der Galerie schwach, weil nur die Sicherheitslämpchen im Boden und die Bildbeleuchtungen brannten, aber sie meinte immer noch, das rote Glühen in seinen Augen zu sehen.
»Wo hast du es her?«, fragte er und zog an dem schwarzen Lederband. Er achtete darauf, nicht mit dem Finger das Silber zu berühren. »Mein Clan hat doch deinen gesamten Schmuck zerstört. Das ist ein teures Stück, und ich habe es noch nie an dir gesehen.«
»Na toll«, sagte sie. »Jetzt spionierst du mir auch noch nach.«
Lucien lächelte nicht.
»Ich spioniere dir nicht nach«, erklärte er. »Ich passe auf dich auf. Das habe ich dir ja gesagt. Wie sonst hätte ich den Angriff gestern Abend mitbekommen sollen? Und das habe ich
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