Endlich wieder leben
seiner Großmutter Avancen gemacht. Doch sie wies ihn ab. »Es schien, als habe sie einen Schwur zu erfüllen, als dürfe es nie wieder einen Mann für sie geben, nicht nach ihrem Heinz. Als würde sie ihm nachträglich untreu werden, wenn sie nun einen anderen erhörte … Noch Jahrzehnte später erzählte sie auf Familienfeiern zu späterer Stunde von Heinz’ letztem Brief, seiner vor Schwäche kaum mehr leserlichen Unterschrift. Sein Bild stand immer auf ihrem Nachttisch. Nie wieder sollte sie eine Bindung eingehen.« 24
Bild 3
Schön wollten sie sein, die jungen Frauen, und verführerisch wie Gina Lollobrigida, Marylin Monroe oder Grace Kelly. Mit engen Taillen und weit schwingenden Röcken zogen sie aber nicht nur die Bewunderung der Männer auf sich, sondern auch den Argwohn der Ehefrauen. Denn es gab viel mehr Frauen als Männer.
Es gab allerdings auch Frauen, für die »Lebensmut« nicht in der Entsagung bestand, nicht im Rückzug vom Leben, nicht in einer freiwilligen Selbstbeschränkung, sondern in der Ausgestaltung dessen, was angesichts der Umstände möglich war – auch im Umgang mit Männern.
Als Hildegards Mutter nach der Flucht in einem Dorf in Schleswig-Holstein gelandet war, fiel sie zunächst in eine tiefe Depression. Zwar sollte sie die offizielle Mitteilung vom Tod ihres Mannes erst Mitte der fünfziger Jahre erreichen, doch die innere Gewissheit, dass er gefallen war, trug sie schon seit der Flucht in sich. Da hatte sie ihn im Traum mit einem Kopfverband an einen Baum gelehnt gesehen. Mit 29 Jahren fühlte sie sich heimatlos und als Witwe. Irgendwann in den fünfziger Jahren entwickelte sie erneut Interesse an Männern. Sie schminkte sich dezent, trug ein leichtes Parfum auf und genoss es, die Blicke auf sich zu ziehen. Bei Männern aus ganz verschiedenen Lebensbereichen suchte und fand sie geistige Anregung, Orientierung, Rat und Sexualität – manchmal für ein paar Stunden oder Tage, manchmal über Jahre. Und sie gab ihrerseits Wärme und Sexualität – auch ohne gemeinsame Familie. Sie hatte eine einfache Philosophie, die es ihr gestattete, diese zeitweiligen Begegnungen nicht als ungenügend und quälend, sondern als beglückend und befriedigend zu erleben: Es gibt zu wenig Männer, sagte sie, und die, die zurückgekommen sind, gehören allen.
Zum Beispiel Roswitha Wisniewski
I m Herbst 1945 kamen meine Eltern, mein Bruder und ich als Flüchtlinge aus Stolp in Pommern nach Berlin. Seitdem lebten wir in der »Frontstadt«, jener in den sowjetischen, amerikanischen, britischen und französischen Sektor geteilten Stadt, die umgeben war von der sowjetischen Besatzungszone. Die 1950er Jahre in Berlin haben mein Denken und meine politischen Überzeugungen stark geprägt. Denn wir alle – sowohl die Berliner, die die Eroberung der Stadt miterlebt hatten, als auch wir, die wir als Flüchtlinge hierhergekommen waren – hatten erfahren, was es heißt, von der Roten Armee erobert und beherrscht zu werden. Uns vereinte eine Antipathie gegen die Sowjetunion und ihre Ideologie, egal, ob wir alt oder jung waren, Anhänger von CDU, SPD oder LDP, 25 Intellektuelle oder einfache Menschen. »Die Russen«, alle sprachen nämlich nur von »den Russen«, wurden kollektiv als Bedrohung empfunden.
Das erste Mal erlebte ich die Sowjetarmee im März 1945, kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs, als sie meine pommersche Heimat eroberte. Unsere Region war bis dahin vom Krieg weitgehend verschont geblieben, meine Familie ebenfalls. Mein Vater, Jahrgang 1892, war zu alt, mein Bruder, Jahrgang 1930, war zu jung, um zur Wehrmacht eingezogen zu werden. Von längeren Schulausfällen durch Einsätze zum Schanzen und zu Erntehilfen abgesehen war auch für mich als Achtzehnjährige das Leben im Krieg relativ normal verlaufen. In meiner Heimatstadt Stolp begann der Krieg erst, als er sich dem Ende zuneigte. Ab Mitte Januar 1945 strömten Flüchtlinge aus Ost- und Westpreußen durch unsere Stadt, zunächst in Zügen,
dann auch im Treck mit Pferdewagen – Frauen, Kinder, Alte, manche gebrechlich, viele verzweifelt. Ich war mit anderen Jugendlichen beauftragt, den Durchreisenden bei eisigen Temperaturen wenigstens etwas heißen Kaffee oder heiße Milch in die völlig überfüllten Züge zu reichen. Irgendwie muss ich mir dabei Scharlach eingefangen haben. Ich wurde krank, und als Anfang März der Befehl zur Evakuierung der Stadt kam, machten sich meine Eltern und mein Bruder zu Fuß und mit Handwagen auf
Weitere Kostenlose Bücher