Endlich wieder leben
den Weg – ohne mich. Ich war so schwach, dass mich eine Freundin im Leichenwagen aus dem Bestattungsinstitut ihres Vaters mitnahm. Wir treckten nach Osten, Richtung Danzig, denn der Weg in den Westen war durch den Frontverlauf bereits abgeschnitten; die Sowjetarmee war von Süden her bis an die Ostseeküste bei Kolberg vorgedrungen. Wer aus dem östlich davon gelegenen Teil Pommerns fliehen wollte, konnte das nur noch über die Ostsee.
Unser Leichenwagen kam nicht weit. Schon nach etwa dreißig Kilometern fingen uns russische Soldaten ab. Sie benahmen sich genauso, wie wir es gerüchteweise gehört und wie wir es befürchtet hatten. Viele Frauen wurden vergewaltigt, darunter zu meinem grenzenlosen Schrecken auch meine Freundin. Ich selbst blieb zwar wegen meiner Krankheit verschont – vor ansteckenden Krankheiten fürchteten sich die Soldaten sehr –, die Angst vor der brutalen Gewalt um mich herum setzte sich aber auch in mir fest, zumal die Übergriffe andauerten, als wir nach Stolp zurückkehrten. Am Straßenrand fanden wir den Leichnam einer Klassenkameradin; die Häuser der Innenstadt waren in Brand gesteckt oder geplündert worden. Völlig demoliert waren auch unsere Wohnung und das Architekturbüro meines Vaters in dem von ihm erbauten Haus.
In Stolp waren sogar jene Frauen vergewaltigt worden, die bei dem katholischen Pfarrer Paul Gediga Schutz gesucht hatten. Gediga, ein guter Freund meiner katholischen Eltern, stammte aus Oberschlesien und sprach auch Polnisch. Dennoch verschleppten die Sowjets ihn gemeinsam mit zahllosen weiteren Deutschen in Viehwaggons in ein Lager bei Graudenz an der Weichsel. Dort ist Gediga
am 12. Mai 1945 elendiglich verstorben. Er hatte seine kargen Rationen noch mit Mitgefangenen geteilt.
Mich bewahrte der Scharlach mit anschließender Ohrenentzündung und entsprechend angeschwollenem Gesicht auch vor der Verschleppung. Und meinen Bruder schützte ein Pole vor der angedrohten Erschießung. Er war bereits im Gefängnis als angeblicher Werwolf 26 verhört worden, als ein polnischer Dolmetscher erklärte, er sei ein Pole. Im Ausweis hatte er den Namen Wisniewski gelesen. Mein Bruder konnte allerdings kein einziges Wort Polnisch. »Bist du wirklich ein Pole?«, hakte der russische Vernehmungsoffizier nach. Und der Dolmetscher bekräftigte: »Ja, er ist ein Pole.« So kam mein Bruder davon. Diese Geschichte erfuhr ich allerdings erst, nachdem ich meine Eltern wiedergefunden hatte. Sie waren ebenfalls nach Stolp zurückgekehrt, und da sich die zurückkehrenden Deutschen östlich vom Fluss Stolpe ein Quartier suchen sollten, waren sie in einem der kleinen Häuser am Stadtrand untergeschlüpft, die meiner Mutter gehörten. Gemeinsam mit Eltern und Bruder zog ich später zu Bekannten, und als auch dieser Stadtteil geräumt werden musste, in eine leer stehende Wohnung in der Nähe des Bahnhofs. Immerzu war man auf der Suche nach etwas Essbarem. Man vegetierte.
Im Juli ging die Verwaltung der Stadt in polnische Hände über; kurz darauf setzte der Druck zur »freiwilligen Ausreise« ein. Es sollte wohl Platz geschaffen werden für die heimatlosen Polen aus den ostpolnischen Gebieten, die an die Sowjetunion gefallen waren. Mir ist in Erinnerung geblieben, wie Polen mit Handwägelchen die Straßen entlangzogen und wir dachten: »Denen geht es wie uns.« Allerdings durften wir nicht einmal so viel mitnehmen, wie auf einen Handwagen gepasst hätte. Trotzdem entschlossen wir uns zur Ausreise, da uns zu Ohren gekommen war, dass mein Vater verhaftet und verschleppt werden sollte. Im September saßen wir in einem völlig überfüllten Zug nach Stettin, in dem wir kurz vor dem Ziel ausgeplündert wurden. Später, auf dem Bahnsteig in einem Stettiner Vorort, wurde uns im Dunkel der Nacht noch der Rest unserer Habe entrissen. Da war ich schon so abgestumpft, dass ich nur noch
einen Gedanken hatte: Raus, bloß raus aus diesem Land. Als wir die Grenze überquerten und ich Deutsch um mich herum hörte, war ich unglaublich erleichtert.
Wir kamen nach Berlin. Berlin war völlig zerstört. Die Menschen lebten zusammengepfercht in den wenigen nicht zerbombten Häusern. Sie schlugen sich mehr schlecht als recht mit Schwarzmarktgeschäften durch, suchten in Trümmern und Kellern nach etwas Essbarem und hamsterten auf dem Land. Wir Heimatvertriebenen empfanden dies im Grunde genommen als Erleichterung, denn dadurch gab es keinen Unterschied zwischen Einheimischen und Zugezogenen. Wir alle waren
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