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Endlich wieder leben

Endlich wieder leben

Titel: Endlich wieder leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helga Hirsch
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Habenichtse. Und wir alle waren geschädigt und verängstigt durch die Rote Armee. Keiner von uns wusste, ob am nächsten Morgen noch alles so sein würde, wie es am Abend gewesen war. Dazu hörten wir erstmals mit hilflosem Entsetzen die Verlautbarungen über die systematische Vernichtung der Juden und anderer Minderheiten durch die nationalsozialistische Diktatur. Wir waren fassungslos darüber, wie viel Unglück die Nationalsozialisten über die Menschen in unserem Land und in Europa gebracht hatten.
    Eigentlich sollten wir Flüchtlinge aus Pommern nach Ludwigslust in Mecklenburg eingewiesen werden, doch meine Mutter erklärte kategorisch: Zu den Russen, sprich in die sowjetische Besatzungszone, gehe ich nicht! Wir kamen bei der Familie meiner Cousine in Berlin-Kreuzberg im amerikanischen Sektor unter, wo wir zu viert in einem Zimmer hausten. Es erschien uns trotzdem fürstlich. Nach einiger Zeit erhielten wir allerdings eine offizielle Zuzugsgenehmigung für Berlin, da mein Vater als Architekt bei der Stadt angestellt worden war. Eine meiner neuen Klassenkameradinnen vermittelte uns nach einigen Wochen eine schöne Drei-Zimmer-Wohnung in Kreuzberg. Wir waren glücklich.
    Sehr bald stellte sich allerdings heraus, dass Vater arbeitsunfähig war. Er verfiel in immer stärkere Depressionen. In Stolp hatte er ein eigenes Architekturbüro besessen, hatte Pläne für Häuser und ganze Gebäudekomplexe in der Stadt und beispielsweise auch für die Kir-che in Kosemühl entworfen. In Berlin hingegen war er ein Angestellter, der vor allem zerstörte Häuser aufzunehmen hatte. In Stolp war er eine Person des öffentlichen Lebens gewesen, geschätzt und gefragt und engagiert in der katholischen Gemeinde. In Berlin war er ein Niemand. Wir waren zwar nicht reich gewesen in Stolp, aber doch wohlhabend durch Bauaufträge und Hausbesitz, eine gutbürgerliche Familie, wie man zu sagen pflegt, mit einem Hausmeisterehepaar, einer Haus- und einer Büroangestellten. Hund, Katze und Kanarienvogel hatten ebenfalls zur Familie gehört. Besonders gern erinnere ich mich an die Abende, an denen meine Mutter am Klavier gesessen und gespielt hatte – sie konnte wunderbar spielen und sang auch im Kirchenchor –, während mein Vater auf und ab gewandert war und in seiner Fantasie die nächsten Häuser konstruiert hatte.

    Bild 4
    Wegen ihrer Kopftücher, Trachten oder Dialekte galten sie als rückständig und hinterwäldlerisch. Geflüchtete Ungarndeutsche wurden als Zigeuner beschimpft, Vertriebene aus dem deutschen Osten als Polacken. Die neue Heimat begegnete den Heimatlosen oft mit Abwehr und Ausgrenzung; ein Lächeln setzten sie nur für die Kamera auf.
    All das gehörte nun der Vergangenheit an. Wir hatten die Heimat verloren und waren in die Armut abgerutscht. Mit seinen inzwischen 53 Jahren glaubte Vater nicht mehr daran, noch einmal ganz von vorn anfangen und seiner Familie wieder das bieten zu können, was er ihr in Stolp geboten hatte. Er kam ins Waldfrieden-Krankenhaus nach Zehlendorf und musste längere Zeit wegen seiner schweren Depressionen behandelt werden. Meine Mutter hat unter seiner Abwesenheit sehr gelitten. Geklagt hat sie allerdings nie. Eine Frau aus Pommern tat das nicht. Zudem waren wir nicht die Einzigen, denen es schlecht ging. Ich erinnere mich an eine Klassenkameradin, die in meinem Beisein körperlich und seelisch zusammenbrach. Sie war bei einem Bombenangriff in Berlin verschüttet gewesen; diese traumatische Erfahrung kam immer wieder hoch. Ähnliches passierte vielen um uns herum. Und so ertrugen wir denn das allgemeine Elend gemeinschaftlich.
    Als mein Vater einigermaßen wiederhergestellt war, riet ihm sein Arzt, nicht in der zerstörten Stadt Berlin zu bleiben, sondern aufs Land zu ziehen. So ging er nach Prenzlau in die Uckermark, wohl mit dem Hintergedanken: Der Ort liegt in der Nähe von Pommern, vielleicht können wir bald zurück. Er erwarb ein ziemlich großes Grundstück, setzte ein Häuschen mit einem kleinen Büro und einer
Wohneinheit darauf und arbeitete wieder als freiberuflicher Architekt. Arbeit sei immer noch das beste Mittel gegen Niedergeschlagenheit, pflegte er zu sagen. Doch auch der Neubeginn in Prenzlau scheiterte. Im Zuge des »beschleunigten Aufbaus des Sozialismus« wurde das Grundstück samt Büro Anfang der fünfziger Jahre enteignet. Vater kehrte nach Berlin zurück. Er richtete sich, da eine Existenz als Angestellter nicht in Frage kam, ein Zimmer in unserer Wohnung als Büro

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