Endlich wieder leben
von »den Russen« gesperrt worden. Der öffentliche Verkehr war eingeschränkt, andauernd wurde der Strom abgeschaltet – ich habe meine Referate und Seminararbeiten weitgehend bei Kerzenlicht in der Küche geschrieben, dem einzigen beheizten Raum der Wohnung. Es herrschte Mangel an Brennmaterial und an Nahrungsmitteln. Man fror und fror in jenem Winter über die Maßen. Aber wir waren entschlossen, trotzig durchzuhalten, und gingen des Öfteren auf den Trümmerberg am Tempelhofer Feld, um die »Rosinenbomber« zu begrüßen, die uns Lebensmittel und Kohlen brachten. Auf keinen Fall sollten »die Russen« Berlin ganz und gar vereinnahmen.
An der FU war Germanistik mein Hauptfach. Doch statt zu studieren, habe ich einige Semester vor allem damit zugebracht, Bücher zu beschaffen und einzuordnen. Die Seminarbibliothek in der Boltzmannstraße musste von Grund auf aufgebaut werden. Wir begannen ja bei Null, in jeder Hinsicht. Bald kamen Professoren wie Hermann Kunisch von der Humboldt-Universität herüber, andere wurden aus Westdeutschland oder dem Ausland berufen. Professor Helmut de Boor beispielsweise kam von der Universität Bern. Er war Altgermanist, zweifellos eine Koryphäe auf seinem Gebiet. Bei ihm promovierte ich 1953, danach stellte er mich als seine Mitarbeiterin, dann als Assistentin ein. Das war ein Glück nicht nur für mich, denn von meinem Gehalt in Höhe von 300 Mark musste zunächst auch meine Familie mit unterhalten werden. Was ich damals noch
nicht wusste: Dies sollte der Beginn meiner wissenschaftlichen Karriere werden. Ende der fünfziger Jahre erhielt ich ein Habilitationsstipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Die Habilitation erfolgte im Januar 1960 mit einer Arbeit aus dem Gebiet der altnordischen Saga. Danach war ich als Dozentin bis 1965 an der Freien Universität tätig.
Anfangs kam noch etwa ein Drittel der Studenten an der FU aus dem Osten. Doch auch bei uns, den Studierenden und Dozenten aus dem Westen, war »der Osten« im Denken ständig präsent. So rief beispielsweise der ASTA dazu auf, sich nicht an den Pfingstmärschen der FDJ und der SED zu beteiligen. Und das studentische Periodikum Colloquium , das ebenfalls von der Humboldt-Universität an die FU gewechselt war und seit Mitte 1950 unter dem Titel Zeitschrift der freien Studenten Berlins erschien, veröffentlichte regelmäßig die Namen von Studenten und Akademikern, die in der DDR verhaftet worden waren. Ich erinnere mich auch noch gut an die Gruppen, die sich bildeten und diskutierten, wenn FDJ-Funktionäre aus dem Osten auf unserem Campus zu agitieren versuchten.
Verständlicherweise haben wir an den Geschehnissen des 17. Juni 1953 großen Anteil genommen. Als ich morgens nichtsahnend ins Institut kam, riefen mir meine Hilfskräfte zu: »Im Osten gibt es einen Aufstand! Wir fahren rüber!« Sie wollten sich vor Ort solidarisch zeigen. Ich blieb, um auf das Seminar zu achten. Wir fühlten uns als Vorposten der Freiheit, wie eine verschworene Gemeinschaft, die das freie Berlin verteidigte, bis es Teil des ganzen demokratischen Deutschlands werden würde.
»Eine freie Stimme der freien Welt«, so kündigte sich der RIAS immer an. Und nachdem die Amerikaner 1950 eine Freiheitsglocke für das Schöneberger Rathaus gespendet hatten, übertrug der RIAS ihr Läuten jeden Sonntag um 12 Uhr. Wir waren alle begeisterte Hörer der legendären »Insulaner«, des Kabaretts von Günter Neumann. Nach ihren Sendezeiten richteten wir unsere Freizeitplanung. Da musste man einfach am Radio sitzen. Alle kannten das Erkennungslied auswendig:
Der Insulaner verliert die Ruhe nicht,
der Insulaner liebt keen Jetue nicht,
der Insulaner hofft unbeirrt,
dass seine Insel wieder’n schönes Festland wird.
Ja, wir verstanden uns als »Insel im roten Meer« und lachten uns unsere Angst weg, wenn der »Jenosse Funzionär« seine Schulungsabende begann: »Und damit, liebe Jenossen und Jenossinnen …«
Angesichts der Angst vor dem sowjetischen Imperialismus veränderte sich auch unser Verhältnis zu den westlichen Alliierten. Aus den »Besatzern« wurden »Schutzmächte«. Einmal war ich dabei, als die amerikanischen Streitmächte eine große Parade in Dahlem abhielten: Soldaten im Gleichschritt, Militärfahrzeuge, Militärmusik – und Tausende von Berlinern am Straßenrand. Als die Panzer mit großem Lärm vorbeiratterten, rief eine Frau neben mir: »Das sind unsere Friedenstauben!« Ja, so haben wir wohl fast alle gedacht: Ohne die
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