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Endlich wieder leben

Endlich wieder leben

Titel: Endlich wieder leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helga Hirsch
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Amerikaner sind wir nichts. Ohne die Luftbrücke wären wir verhungert. Wir waren »den Amis« dankbar. Wir liebten sie geradezu. Und Frauen, die mit »den Amis« gingen, stießen zumeist auf keine Missbilligung.
    Für mich war auch klar, dass Deutschland wieder bewaffnet werden musste, um sich gegen den Warschauer Pakt zu verteidigen. Ich erinnere mich noch gut an das erschreckende Ultimatum Chruschtschows im November 1958, in dem er den Abzug der westalliierten Truppen forderte. Berlin sollte eine entmilitarisierte Freie Stadt werden. Dagegen haben sich die NATO-Staaten, die Bundesregierung unter Konrad Adenauer und der Regierende Bürgermeister von Berlin Willy Brandt mit aller Entschiedenheit gewehrt. Auch wir Bürger waren uns einig. Niemals würden wir zulassen, dass West-Berlin faktisch zum Bestandteil der DDR gemacht würde. Chruschtschow hat das Ultimatum nie zurückgenommen, aber glücklicherweise verstrich es aufgrund der entschiedenen Haltung der westlichen Politiker nach einem halben Jahr ohne Konsequenzen.

    Ja, wir lebten in einer Frontstadt – und wollten trotzdem nicht wegziehen. Mein Vater hatte wieder Aufträge. Ich verdiente als Assistentin mein erstes Geld, und mein Bruder studierte Architektur an der Technischen Universität bei dem berühmten Architekten Hans Scharoun. Wir hatten Fuß gefasst. Woanders noch mal anfangen, das wollten wir nicht. Wir fühlten uns gut in Berlin. Kalter Krieg hin oder her – das Leben begann endlich wieder lebenswert zu werden. Von meinem Geld als Assistentin kaufte ich mir ein Auto, zwar ein gebrauchtes Vorkriegsmodell, aber es tat seinen Dienst. Ich taufte es Bucephalus nach dem nicht leicht zu lenkenden Pferd von Alexander dem Großen. Mit Bucephalus habe ich meine Eltern fast jeden Sonntag abgeholt zu einer Fahrt an die Havel – viel weiter ging es für uns West-Berliner ja nicht –, aber wir haben es genossen. Später fuhren wir zum Urlaub an den Timmendorfer Strand und nach Niendorf. Die Ostsee hatte uns gefehlt. Schließlich entdeckte mein Vater Heiligenhafen, eine Hafenstadt auf der Halbinsel Wagrien. Dieser Ort wurde unser Ersatz für Stolpmünde, das Ostseebad nahe Stolp. Unser bürgerlicher Lebensstil kehrte langsam zurück.
    Für die Ferientage an der Ostsee nahmen wir auch die Fahrten durch die DDR in Kauf, obwohl die Grenzkontrollen höchst unangenehm waren. Oft musste ich das gesamte Gepäck ausräumen. Dann wurden Gepäckraum und Innenraum inspiziert. Selbst unter dem Auto suchten die Grenzpolizisten mit einem Spiegel nach verbotenen Sachen. Einmal stand ich eine ganze Nacht hindurch am Grenzkontrollpunkt Helmstedt, weil die Grenze dichtgemacht worden war. Das Rote Kreuz versorgte uns mit Essen, Trinken und Decken. Ich spürte wieder einmal das starke Gefühl der Zusammengehörigkeit in der westdeutschen Bevölkerung, das im Kalten Krieg gegenüber der Sowjetunion und der DDR bestand.
    Mit dem Mauerbau 1961 wurde der Systemgegensatz in Stein gegossen. Wir West-Berliner waren nun noch mehr vom »Festland« abgeschnitten, lebten aber auch nicht mehr in der ständigen Konfrontation mit DDR-Entsandten in West-Berlin. Für mich und die ganze Familie brachten die sechziger Jahre grundlegende Veränderungen. Mein Vater erkrankte erneut und starb 1966. Für meinen Bruder begann das enge Zusammenwirken als Mitarbeiter und später als selbstständiger beruflicher Partner von Hans Scharoun bei Planung und Bau der Gebäude am Berliner Kulturforum: Philharmonie, Musikmuseum, Staatsbibliothek, Kammermusiksaal. Ich stand mit einer Professur an der Universität Kairo (1965–1967) am Beginn eines wissenschaftlichen Wirkens außerhalb von Berlin. 1967 wurde ich auf die Professur für ältere deutsche Sprache und Literatur an der Philosophischen Fakultät der Universität Heidelberg berufen, »als erste Frau seit der Gründung im Jahr 1386«, wie der Dekan in einer kleinen Begrüßungszeremonie hervorhob.

    Bild 5
    »… und dann nichts wie raus zum Wannsee.« Manchmal wollten die West-Berliner ihrer eingeschlossenen Stadt allerdings auch entfliehen. Selbst stundenlange Wartezeiten an den Kontrollpunkten zur DDR hinderten sie nicht, mit dem eigenen Pkw zur Ostsee, zum Schwarzwald oder gar bis zur Riviera aufzubrechen.
    Die politischen Entwicklungen in Berlin verfolgten mich allerdings auch in Heidelberg. Selbst aus der Ferne schockierte es mich, dass im Zuge der Studentenbewegung der Neomarxismus ausgerechnet an der FU Fuß fassen konnte. Die Stadt wurde zu

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