Endlich wieder leben
ein und arbeitete nach einiger Zeit recht erfolgreich wieder als freischaffender Architekt.
Neuen Lebensmut schöpften wir wesentlich aus der Musik. Seit Ende der vierziger Jahre nahmen wir am wieder auflebenden Berliner Kulturleben teil, besuchten Opern und Konzerte. Ich wurde in den Chor der Sankt-Hedwigs-Kathedrale aufgenommen, wenige Jahre später auch mein Bruder. Der Hedwigschor wurde unter dem Domkapellmeister Karl Forster einer der berühmtesten Laienchöre der Stadt. Mit den Philharmonikern unter Wilhelm Furtwängler und Herbert von Karajan haben wir viele Konzerte gegeben und auch für Plattenaufnahmen gesungen – von den Spitzendirigenten zu wirklichen Spitzenleistungen getrieben. Unvergesslich war für mich eine Aufführung der Neunten Symphonie Beethovens unter Furtwängler an einem Silvesterabend Anfang der fünfziger Jahre. Das Haus der Philharmoniker und die Sankt-Hedwigs-Kathedrale waren ausgebombt, deswegen fanden die großen Konzerte im Steglitzer Titania-Palast statt, einem umgebauten Luxuskino, in dem auch Louis Armstrong, Marlene Dietrich und Yehudi Menuhin gastierten und die ersten Berliner Filmfestspiele stattfanden. Hier war damals für kurze Zeit das kulturelle Zentrum der Stadt. Ich bin jedenfalls immer beglückt und heiter nach den gelungenen Auftritten unseres Chors durch das dunkle, nächtliche Berlin zu unserer Wohnung in Kreuzberg gelaufen.
Ich besaß damals noch keine feste politische Überzeugung, neigte aber der CDU zu. Nach den Erfahrungen bei Kriegsende stand für mich vor allem eines fest: Auf keinen Fall wollte ich ein kommunistisches System wie in der Sowjetunion. Deshalb geriet ich
bald in Widerspruch zur Berliner Universität im Ostteil der Stadt, der Humboldt-Universität.
Mangels einer Alternative hatte ich nach dem Notabitur erst einmal dort mit dem Studium begonnen. Verwandte hatten meinen Eltern zwar geraten, sie sollten ihre Kinder so schnell wie möglich mitverdienen lassen. Doch diese hatten erklärt: Wenn die Kinder wollen, sollen sie weiter zur Schule gehen und studieren. Das haben mein Bruder und ich den Eltern nie vergessen.
Als Kind wollte ich Priester werden. Als ich merkte, dass das für eine Frau in der katholischen Kirche unmöglich ist, wollte ich Medizin studieren. Doch nach der Flucht stellte sich heraus, dass das für uns zu teuer wäre, und so verfiel ich auf Germanistik. Germanistik war an der Humboldt-Universität allerdings bereits belegt, daher folgte ich dem Rat der Auswahlkommission und studierte Russisch, wo sich zu wenig Bewerber gefunden hatten. Ein Russischstudium fand ich zunächst nicht gerade attraktiv (was sich angesichts der russischen Literatur bald änderte), aber bevor ich gar keinen Studienplatz bekommen hätte, ließ ich mich darauf ein und belegte nebenher Germanistik. Ich bekam sogar ein kleines Stipendium.
Dass die Gebäude der Universität teilweise zerstört waren und es im Hörsaal durchregnete, störte mich nicht. Es war sogar ein wenig abenteuerlich, dass der Griechischunterricht im Keller des Berliner Doms stattfand. Was mir allerdings missfiel, war der zunehmende politische Druck auf die Studenten und Lehrkräfte, die Missachtung der Hochschulautonomie, die Verfolgung von Andersdenkenden. Drei Studenten, die die kritische Studentenzeitschrift Colloquium herausgaben, wurde die Studienerlaubnis entzogen. Den Literaturprofessor Hermann Kunisch, der sich gegen die politischen Eingriffe in die Universität ausgesprochen hatte und der über so »verhängnisvolle Sachen« wie die Dichtung Rainer Maria Rilkes las, begleiteten wir mit kleinen Trupps bis zur S-Bahn oder Straßenbahn, damit er nicht auf dem Weg zu seiner Wohnung in West-Berlin behelligt würde. Über zwanzig Studenten und Dozenten, das erfuhr ich später, sind zwischen 1945 und 1948 vom sowjetischen
Geheimdienst verhaftet oder deportiert worden. Einige kamen wieder frei, andere wurden in die Sowjetunion verschleppt, einige sogar erschossen. Die Idee einer neuen, unabhängigen Universität im Westteil der Stadt habe ich von Anfang an unterstützt. Als die Freie Universität im Wintersemester 1948/49 in Dahlem eröffnet wurde, zählte ich zu ihren ersten Studierenden. Die FU war für uns weit mehr als eine wissenschaftliche Institution. Sie war ein Symbol der geistigen Freiheit, ein Symbol auch unseres Freiheitswillens.
Es war die Zeit der sowjetischen Berlin-Blockade. Sämtliche Straßen, Schienen- und Wasserwege nach West-Berlin waren vom Juni 1948 bis Mai 1949
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