Endlich wieder leben
Abend mit nach Hause nahm, klingelte sie drei Mal, damit ihr Mann wusste, dass sie es ist. Erst dann machte er die vier Schlösser auf. Und als ich am nächsten Tag durch die Straßen lief, stieß ich auf Leute, die an den U-Bahn-Schächten lagen, wo schöne warme Luft hoch stieg. Damals habe ich gedacht: »Mein Gott, wir sollten unsere Leute eigentlich fahren lassen, damit sie die kapitalistische Realität selbst sehen können.«
Mein Glauben an den Kommunismus wurde nicht erschüttert. Als Stalin 1953 starb, haben wir an der Hochschule eine Mahnwache
vor seinem Porträt organisiert. Wir waren sehr betroffen, und einer meiner besten Studenten sagte im Seminar: »Wir müssen nun der Tatsache ins Auge sehen, dass wir dem Krieg ein Stück näher gerückt sind.« Ein anderer Student hat sich vor lauter Erschütterung das Leben genommen. Wir alle waren uns Stalins außergewöhnlicher Persönlichkeit und seiner Rolle in der Geschichte bewusst.
Die Enthüllungen über seine Verbrechen auf dem 20. Parteitag drei Jahre später haben mich sehr schockiert und erschüttert. Aber damals ist die Geheimrede von Chruschtschow nicht vollständig veröffentlicht worden; und den Sender Freies Berlin, der den gesamten Text am 21. Juni 1956 sendete, habe ich selbstverständlich nicht gehört. Ich war nur wütend – allerdings im stillen Kämmerlein –, als die Fehlerdiskussion auf dem Parteiplenum der SED gleich wieder abgewürgt wurde. Wir müssten vor allem nach vorn schauen, hieß es da, und die Fehler »im Vorwärtsschreiten« überwinden. Die älteren Genossen taten so, als hätten nur wir jüngeren uns ein heroisiertes Bild von Stalin gemacht, sie selbst seien nie Anhänger des Personenkults gewesen. Damals habe ich mich am Schriftsteller Willi Bredel aufgerichtet, der erklärte, wir müssten die Sache ernsthafter und tiefer diskutieren. Gott sei Dank, dachte ich, einer sagt, was in diesem Moment gesagt werden muss.
Als die Arbeiterproteste am 17. Juni 1953 begannen, waren wir an der Ostsee, im Gästehaus des Zentralkomitees in Ahlbeck, das erste Mal im Urlaub. Wir haben die Ereignisse nur über Funk und Fernsehen verfolgt und stimmten völlig mit der Parteilinie überein, dass es sich um eine bewusste Provokation des Westens handle: Vom Klassengegner gewollt, aber nicht von der Arbeiterklasse. Ich hatte keinerlei Verständnis für die Proteste. Den Gedanken, dass so viele Menschen in einem spontanen Aufbegehren nicht gesteuert sein können, konnte ich damals nicht zulassen. Nee.
Auch beim Ungarnaufstand von 1956, als die Aufständischen kurze Zeit eine Regierung mit Imre Nagy an der Spitze bildeten, war ich fest davon überzeugt, die Massen auf der Straße, das sei die Konterrevolution. Denn wenn eines wirklich tief in unserem Bewusstsein
verankert war, dann war es die Lehre vom Klassenkampf. Hier sahen wir den Beweis, dass die unterlegene Klasse nicht freiwillig abtrat. Mein Mann und ich hingen am Radio und dachten: Wenn das so weitergeht, werden demnächst wir am Pfahl hängen. Wir glaubten fest: »Die Partei hat immer recht.« Wenn jemand aus einem anderen Kulturkreis oder politischen Milieu das Lied von Louis Fürnberg hört, denkt er wahrscheinlich, das sei ein Kabarett-Text. Er kann nicht die tiefe Verbundenheit nachfühlen, die ich bei diesen Worten über »die Partei« empfand:
Sie hat uns niemals geschmeichelt.
Sank uns im Kampfe auch mal der Mut,
Hat sie uns leis’ nur gestreichelt,
»Zagt nicht«, und gleich war uns gut.
Die Partei, die Partei, die hat immer recht!
Und, Genossen, es bleibe dabei;
Denn wer kämpft für das Recht,
Der hat immer recht
Gegen Lüge und Ausbeuterei.
Die Partei war etwas Heiliges. Als einem Genossen auf einer Parteiveranstaltung einmal das Parteibuch aus der Tasche fiel, gab es der, der es aufhob, nicht einfach zurück. Nein, er ging zur Parteileitung und sagte: »Mit diesem edelsten Dokument, das es auf der Welt gibt, ist ein Klassengegner nicht gut umgegangen.«
Den Zentralismus habe ich voll akzeptiert, die Parteidisziplin war für mich die Bedingung des Erfolgs. Ich hatte überhaupt kein Verständnis für die Gruppe um den Philosophieprofessor Wolfgang Harich, der nach der Chruschtschow-Rede gegen Stalin 1956 einen besonderen deutschen Weg zum Sozialismus propagierte und die Auflösung der Stasi, freie Wahlen und eine Allianz mit der SPD vorschlug. Als er 1957 wegen Bildung einer konspirativen, staatsfeindlichen Gruppe zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt wurde, habe ich die
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