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Endlich wieder leben

Endlich wieder leben

Titel: Endlich wieder leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helga Hirsch
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Argumente gegen ihn auf der Auswertungsveranstaltung
voll gebilligt. Die Sache betraf auch unser Institut, denn einige Studenten aus dem Grundstudium waren in die Sache verwickelt. Nein, ich hatte keine Sympathie für die Strömung, denn sie war gegen die Disziplin. Wir aber waren so erzogen, dass schon die Gedanken an das, was der Parteilinie widersprechen könnte, abgewehrt wurden.
    Vielleicht darf ich zur Erklärung noch geltend machen, dass ich die ganze Zeit über eine 25- bis 27-jährige Frau berichte, die sich neben dem Beruf und der Partei noch um zwei kleine Kinder zu kümmern hatte und deren Mann viel unterwegs und voll ausgelastet war. Viel mehr als die ideologischen Probleme beschäftigten mich häufig banale Fragen wie: Sind meine Kinder heute wieder die letzten, die abgeholt werden? Oder: Wo bringe ich sie bloß unter, wenn aus der Krippe der Anruf kommt, sie seien grippekrank?
    Außerdem hängt sehr viel vom Charakter ab. Wenn ich mich zu einer Sache entschlossen habe, bleibe ich dabei. Ich lernte meinen Heiner vor fast sechzig Jahren kennen und bin nie auf die Idee gekommen, mich von ihm zu trennen. Getrennt wurden wir erst durch den Tod. Kurz vor der Goldenen Hochzeit hat er mich Richtung Friedhof verlassen. Ich habe in meinem Leben auch niemals gekündigt. Nicht einmal beim Zusammenbruch der DDR. Zwei Millionen Mitglieder sind aus der SED ausgetreten, ich hingegen gehöre zu der Minderheit von 50 000, die treu geblieben sind. Denn ich sage: »Ich habe früher so viel mitgetragen, dass ich jetzt auch für die Schulden aufkommen möchte.« Die meisten Menschen entscheiden sich in Krisen eher dafür, einen scharfen Schnitt zu machen und von Neuem anzufangen. Ich will lieber so hintrappeln. Einfach so hintrappeln und höchstens das verändern, was ist.
    Ich war inzwischen fünf Jahre an der Hochschule. Wenn ich im Wissenschaftsbereich bleiben wollte, musste ich meine berufliche Qualifizierung vorantreiben und promovieren. Fragte sich nur, wie ich das angesichts der Doppel- und Dreifachbelastung anstellen könnte. Da las ich, dass am Institut für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED die Möglichkeit der Aspirantur bestünde, das heißt, eines weiteren Studiums mit dem Ziel eines wissenschaftlichen Abschlusses.

    Bild 10
    Für den Aufbau des Sozialismus! Es war nur eine Minderheit, die sich in der DDR für ein antifaschistisches, sozialistisches System einsetzte – zunächst in der Regel getragen vom Wunsch nach einer Gesellschaft ohne Ausbeutung und Krieg, später vom Willen nach Machterhalt, von ideologischer Verblendung oder weil es ganz einfach leichter war, sich opportunistisch anzupassen, als sich zu entziehen.
    Also habe ich mich dort beworben. Eine Frauenquote war in der DDR nie festgeschrieben, aber hinter den Kulissen hat es sie immer gegeben. Wir hätten nicht so viele Frauen in der Volkskammer gehabt, wenn nicht klar gewesen wäre, dass mindestens ein Drittel der Sitze mit Frauen zu besetzen sei. Obwohl ich nicht alt genug war und nicht im Parteiapparat gearbeitet hatte, wurde ich aufgrund der Frauenförderung zum 1. Dezember 1959 am Institut für Gesellschaftswissenschaften angenommen, wo die Grundlinien der Parteipolitik erarbeitet und kontrolliert wurden.
    Lange Zeit fand ich kein Promotionsthema. Dann aber nahm eine Delegation von DDR-Philosophen am Weltkongress für Soziologie im französischen Evian teil. Als mein Institutsdirektor zurückkehrte, erzählte er von westlichen Kollegen, die gefragt hätten, warum wir keine empirischen Forschungen betrieben und neben der Makro-Ebene nicht auch die Folgen der neuen ökonomischen und sozialen Verhältnisse auf kleine Gruppen untersuchten, etwa auf Familien oder auf Frauen. Ein neues Feld eröffnete sich plötzlich für mich, ich spürte eine große Erleichterung. Ich musste nicht über die Pariser Kommune oder den blutigen Sonntag in St. Petersburg forschen, ich konnte produktiv nutzen, was ich aufgrund eigener Lebensumstände kannte. Aach! Ich schrieb also eine Zulassungsarbeit über die Bäuerinnen in der DDR und ihre gesellschaftliche Stellung in den Genossenschaften. Meine Dissertation untersuchte die sozialistischen Familienbeziehungen in der DDR.
    Da ich weitermachen wollte mit den Themen Frau und Familie, bin ich schließlich an der Akademie der Wissenschaften gelandet, wo Mitte der sechziger Jahre die wissenschaftlichen Grundlagen für die Frauenpolitik geschaffen wurden. Mit dieser Aufgabe konnte ich mich voll

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