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Endlich wieder leben

Endlich wieder leben

Titel: Endlich wieder leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helga Hirsch
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    Die Arbeit an der Akademie war aber nicht immer leicht. Wie oft wurde ich abgekanzelt von Inge Lange, der zuständigen Sekretärin im Zentralkomitee für die Frauenarbeit: Dass ich die Arbeit
nicht im Griff hätte! Dass ich wieder etwas nicht richtig gemacht hätte! Ich habe den Mund gehalten und gegenüber den Mitarbeitern die offizielle Linie vertreten. Eine gute Freundin von mir, Chefredakteurin der Für Dich , hat mir oft gesagt: »Mädchen, wie lange willst du dir das noch gefallen lassen?«
    Ja, warum habe ich mir das gefallen lassen?
    Da war es wieder: Wegen der Partei. Der Zentralismus hatte doch auch viel Positives. Ich stand mit meinem Namen für eine Frauenpolitik, die im Verhältnis zu den anderen sozialistischen Staaten wirklich klasse war! Bei uns gab es Kinderkrippen, Kindergärten, Beruf und Familie waren vereinbar. Und für eine gute Sache … aach  … steckt man eine Menge ein. Man könnte mich als Opportunistin abtun. Ich habe mir aber gesagt: »Wenn du jetzt einen Schritt weitergehst, bist du weg vom Fenster. Und eine Nachfolgerin dürfte es nicht besser machen als du.« Also habe ich mich arrangiert.
    Mein Mann hat öfter den schönen Spruch benutzt: Die meisten Dellen am Helm eines Kommunisten stammen nicht vom Klassengegner. Heiner musste das noch viel stärker erfahren als ich. In den sechziger Jahren stieg er Schritt für Schritt auf, im Herbst 1973 wurde er sogar Landwirtschaftsminister. Doch eines Tages traf ich ihn unerwartet am Nachmittag zu Hause an. Nach einem Kurswechsel 1982 war er von einem Tag auf den anderen kaltgestellt worden. Heiner sollte aus Gesundheitsgründen um seinen Rücktritt bitten. Da war er 53 Jahre alt und kerngesund. Er wurde abgeschoben auf den Posten des Generalsekretärs der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft (GSF).
    Seitdem war sein Lebensnerv getroffen. »Siehste«, sagte er, »ich habe mir immer ausgemalt, wie es sein würde, wenn ich entlassen werde. Aber dass es wirklich so sein würde, wie es ist, habe ich nicht geahnt.« Er wurde nicht mehr gebraucht und musste mit der Demütigung leben. Genossen kannten ihn auf einmal nicht mehr und wechselten die Straßenseite, um ihm nicht zu begegnen. Eines Tages im November 1988 ließ Heiner auf dem Nachhauseweg den Fahrer kurz halten, um an einer kleinen Bude noch etwas einzukaufen. Auf
dem Rückweg erfasste ihn ein Auto; er hatte eine Gehirnerschütterung, Knochenbrüche der Beine, die nie wieder zusammenwuchsen; er wurde von außen verplattet, von innen verplattet. Seitdem war Heiner auch körperlich schwer angeschlagen.
    Es wird immer nur der Opfer gedacht, die gestorben sind, weil sie die DDR verlassen wollten und an der Grenze erschossen wurden. Ich kenne aber eine Menge Leute, die sich das Leben genommen haben nach 1989, weil sie eine Sache verloren hatten, an die sie geglaubt haben.
    Mein Heiner hat sich am 13. September 2001 das Leben genommen. Mit einem Kopfschuss aus seinem Jagdgewehr.
    Warum? Der Sinn des Lebens besteht doch wesentlich darin, dass man gebraucht wird und einen Platz hat in der Gesellschaft. Ich machte mich nach 1989 noch einmal auf; Heiner konnte mit seinen Krücken an irgendwelche Aktivitäten nicht mehr denken. Die ersten ein, zwei Jahre fuhr er mich, wenn ich Angst hatte, mich zu Frauenseminaren in den Westen aufzumachen, und lächelte noch, wenn er erklärte: »Ich bin der Fahrer meiner Frau!« Später wollte er von meinen neuen Erfahrungen nichts mehr wissen. Einmal ist er noch aufgelebt – eine Frau interviewte ihn für eine Dissertation über die Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft. Ansonsten war er nicht mehr gefragt. Da hatte eine böse Krankheit ein Leichtes, diesen Menschen zu besetzen, der nicht mehr die Kraft aufbrachte, sich gegen sie zu wehren.
    Ich denke, der Sozialismus war ein Experiment, das gründlich schiefgegangen ist. Wir waren doch am Ende. Selbst die Treuesten waren überzeugt, so geht es nicht weiter. Und mag es auch zynisch klingen: Wenn diesem ersten sozialistischen Experiment wenigstens gelungen sein sollte, das erste Regime zu sein, das ohne einen Tropfen Blut zu vergießen abgetreten ist, dann bestünde darin schon eine humanistische Leistung. Unsere Funktionäre haben verantwortlich gehandelt und die Waffen nicht gegen das Volk gekehrt. Der Anteil der Treuesten am Untergang dieses Systems ist nicht zu unterschätzen.

VON DEUTSCHLAND NACH DEUTSCHLAND
    I n Deutschland treibt es die Menschen am Ende des

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