Endlich wieder leben
Krieges in die eine oder andere Richtung. Die Einen suchen nach Familienangehörigen, Verwandten, Freunden, die Anderen eine neue Unterkunft oder eine neue Arbeit. Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene und KZ-Insassen kehren zurück in ihre Heimat im Westen oder Osten; geflüchtete und vertriebene Deutsche trecken aus Polen, der Tschechoslowakei, Jugoslawien und Ungarn nach Deutschland; innerhalb Deutschlands setzen sich Bürger aus der Sowjetisch Besetzten Zone in die Besatzungszonen von Amerikanern, Engländern und Franzosen ab. Die Grenzen zwischen den vier Besatzungszonen, die am 12. September 1944 im Londoner Protokoll von den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs festgelegt worden sind, bilden noch keine ernsthafte Barriere für die Menschenströme; sie sind als unbefestigte Verwaltungsgrenzen gedacht und grundsätzlich offen. 56
1,6 Millionen Deutsche wechselten zwischen Oktober 1945 und Juni 1946 aus der SBZ allein in die britische Zone. Den thüringischen Kontrollpunkt Arenshausen überquerten beispielsweise von Ende Oktober bis Ende November 1945 (also in nur einem Monat) 275 000 Personen – durchschnittlich mehr als 13 000 Personen pro Tag in beide Richtungen. Es gab Zehntausende, die auf der einen Seite der Demarkationslinie wohnten und auf der anderen arbeiteten; es gab Landwirte, deren Höfe in der einen und deren Felder in einer anderen Zone lagen, und es gab Familien, die in benachbarten Orten oder – wie im Fall des kleinen Mödlareuth – im selben Dorf wohnten, aber zu verschiedenen Besatzungszonen gehörten.
Die ersten Kontrollmaßnahmen wurden Mitte 1946 eingeführt, in erster Linie aufgrund des florierenden Schwarzhandels. Die Sowjetische Militäradministration (SMAD) sperrte Ende Juni die Grenze zu den westlichen Besatzungszonen für vier Monate, gleichzeitig setzte sie im Alliierten Kontrollrat die Einführung von Interzonenpässen im innerdeutschen Reiseverkehr durch. 57 Doch während zwischen der britischen und der amerikanischen Zone alle Reisebeschränkungen bereits am 23. Juli 1946 wieder fielen, wurde für die Reise in die sowjetische Besatzungszone beziehungsweise spätere DDR ab Juli 1948 neben dem Interzonenpass auch noch eine Aufenthaltsgenehmigung der örtlichen Behörden erforderlich.
In den ersten Nachkriegsjahren war die Demarkationslinie nur provisorisch mit Hinweisschildern und einzelnen Stacheldrahtzäunen gekennzeichnet. Wer sie nach dem Sommer 1946 jenseits der offiziellen Übergänge überschritt, handelte allerdings illegal, auch wenn er noch kein sonderliches Risiko einging. Von der Schusswaffe wurde bis Anfang der fünfziger Jahre bei unbewaffneten Grenzgängern kein Gebrauch gemacht. 58
Ab Dezember 1946 begann die SMAD mit dem Aufbau einer Grenzpolizei. 1946/47 umfasste sie 2500 Mann und hatte neben der knapp 1400 Kilometer langen Demarkationslinie zu den Westzonen auch die Grenze zu Polen (460 Kilometer) und zur Tschechoslowakei (395 Kilometer) zu kontrollieren. Auf einen Einzelposten entfiel ein Streckenabschnitt von mehreren Kilometern; es war unmöglich, die große Zahl der illegalen Grenzübertritte zu unterbinden. 59 Trotzdem wurden 1947 allein in Thüringen rund 165 000 Personen beim illegalen Grenzübertritt erwischt (sowohl von West nach Ost wie von Ost nach West), meist kleine Händler und Schieber, die ihre Familien mit Tauschgeschäften durchbrachten. Daneben wurden auch Personen gefasst, die in den Schmuggel großen Stils verwickelt waren. Im Juli 1947 etwa stellte eine einzige Grenzdienststelle 33 Lkw mit Maschinen und Betriebsausrüstungen sicher, allein Thüringen konfiszierte im Herbst 1947 fünf Tonnen Leder, Stoffe, Gardinen und Glühbirnen.
Als die Grenzpolizei Mitte 1949 auf 15 000 Mitglieder aufgestockt war, erhöhte sich auch die Zahl der aufgegriffenen »Grenzverletzer«. Zwischen Juni 1948 und Juli 1949 wurden 214 »Spione und Saboteure«, 2418 »kriminelle Verbrecher«, 668 »Großschieber« und 2115 »Schmuggler« festgenommen. 60 Wer unter den insgesamt 482 605 Aufgegriffenen nicht zu diesen kriminalisierten Personengruppen zählte, musste zwar mit Festnahme und Verhör rechnen, doch kam er meist mit einer geringfügigen Geldstrafe davon, so dass, wer an der einen Stelle nicht durchgekommen war, es in der Regel an einer anderen oder zu einem anderen Zeitpunkt noch einmal versuchte. 61
Noch bildeten die Flüchtlinge eine Minderheit unter den Grenzverletzern, Tendenz allerdings rapide steigend. Hatten 1949 erst 129 345 Personen das
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