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Endlich wieder leben

Endlich wieder leben

Titel: Endlich wieder leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helga Hirsch
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Arbeitern erhielten Italiener oft weniger Lohn, bei Illegalen sparten die Unternehmer generell die Sozialabgaben. Aus Enttäuschung über niedrige Löhne, schlechte Arbeitsbedingungen und teilweise katastrophale Unterkünfte wechselten viele Gastarbeiter häufig die Arbeit oder kehrten in die Heimat zurück.
    Noch dachte niemand daran zu bleiben, sie waren ja Arbeiter auf Zeit, oft nicht wohlgelitten von ihrem deutschen Umfeld. Als Giovanni Corallo nach einem Zimmer suchte, »haben sie mir die Tür vor der Nase zugeschlagen. Im Wirtshaus haben sie dir nichts zu trinken gegeben, draußen stand geschrieben: ›Für Italiener verboten‹.« Oft kam es zwischen Deutschen und Italienern zu Prügeleien. »Einmal habe ich allein an der Haltestelle auf die Straßenbahn gewartet, da sind fünf junge blödgesoffene Deutsche vorbeigekommen. Sie haben mich halbtot geschlagen, und ich war fünf Tage im Krankenhaus. Aber einmal waren wir am Zug: Wir haben den Deutschen eine Tracht Prügel verabreicht, die sie nicht so leicht vergessen werden.«
    Insgesamt war die Zahl der Gastarbeiter in den fünfziger Jahren noch bescheiden. 1955 arbeiteten gerade einmal 7500 Italiener in der Bundesrepublik; als italienische Wohnbevölkerung waren 25 802, im Jahr 1961 immerhin schon 196 672 Personen verzeichnet. 105
    Die Stellung der Italiener in der westdeutschen Gesellschaft verbesserte sich erst nach Ankunft der türkischen »Gastarbeiter«. Da gerieten die »Kümmeltürken« auf die unterste Stufe der Bewertungs-und Lohnskala, während Bildungsbürger nun zugunsten der Italiener auf das jahrtausendealte und reiche kulturelle Erbe Italiens verwiesen, auf Landschaft, Licht und auf Johann Wolfgang von Goethe: »Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn.« Beim italienischen Eisverkäufer in Gelsenkirchen fühlten sich die neuen Italienurlauber an die romantischen Abende am Mittelmeerstrand erinnert:
    Wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt
Und vom Himmel die bleiche Sichel des Mondes blinkt,
Zieh’n die Fischer mit ihren Booten aufs Meer hinaus,
Und sie legen in weitem Bogen die Netze aus.
Bella, bella, bella Marie …
    Mit Rudi Schuricke wurden die Capri-Fischer zu einem der meistgespielten Schlager Anfang der fünfziger Jahre.
    Wirtschaftsminister Ludwig Erhard hat den Begriff »Wirtschaftswunder« zwar abgelehnt. Vielen erschien es jedoch tatsächlich wie ein Wunder, dass das Bruttosozialprodukt durchschnittlich jedes Jahr um 7,6 Prozent stieg, 1955 sogar um 11,5 Prozent. Die Industrieproduktion wuchs um 149, die Investitionsgüterindustrie um über 220 Prozent. Der Wert der Aus- und Einfuhren verdoppelte sich von 17 auf 37, beziehungsweise von 16 auf 31 Milliarden DM.
    Der bemerkenswerte Aufstieg hatte mehrere Väter: Da war einerseits die von Erhard praktizierte liberale Marktwirtschaft, die allerdings nicht auf staatliche Bewirtschaftung, Lenkung und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen verzichtete. Da war der soziale Frieden, der das Land durch eine Mitbestimmung in der Montanindustrie und ein Betriebsverfassungsgesetz vor Arbeitskämpfen schützte. Da waren der Lastenausgleich, der Vertriebene und Kriegsgeschädigte zumindest teilweise entschädigte, und das Rentengesetz von 1957, das Rentner an der allgemeinen wirtschaftlichen Entwicklung beteiligte. Westdeutschland profitierte darüber hinaus von äußeren Umständen, etwa dem amerikanischen Marshallplan, der das kriegsgeschädigte Land bis 1953 mit Krediten, Rohstoffen, Lebensmitteln und Waren versorgte. Es profitierte – bitter aber wahr – auch vom Koreakrieg, weil andere westliche Länder ihren zivilen Sektor zugunsten der Rüstungsindustrie zurückfuhren und Deutschland seinen Export ankurbeln konnte. 106
    Und schließlich profitierte Deutschlands Wirtschaft von der Tatkraft »kühner Männer«, von Männern aus meist einfachen Verhältnissen
wie Max Grundig, Willy Schlieker, Carl F. W. Borgward oder Josef Neckermann, die die Umbruchsituation zu rasanten Aufstiegen zu nutzen verstanden.
    »Skurril sind sie schon gewesen, die großen Nachkriegs-Tycoons«, 107 schrieb der Spiegel voller Bewunderung. »Klasse hatte mancher. Eigenwillig und von der Sehnsucht nach Unabhängigkeit geplagt, haben sie alle autokratisch geherrscht und manisch gebaut. Ihre Spezies ist knorrig, doch einzig bis auf den heutigen Tag.«
    Einer von ihnen war der Hamburger Willy Bruns. Als Schuljunge hatte der Sohn kleiner Gewerbetreibender mit dem Fahrrad die Brötchen ausgefahren, die im Laden seiner

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