Endlich wieder leben
dessen Produktion sie selbst mitwirkten.
Bis 1963 wuchsen die Nettoreallöhne auf das Doppelte, »eine beispiellose generationentypische Erfahrung«. 96 Nur noch die Hälfte des Geldes musste für feste Kosten wie Miete aufgewendet werden. Die Konsumausgaben der Familien stiegen deutlich an, zumal auch immer mehr verheiratete Frauen »dazuverdienten«, um sich technische Errungenschaften leisten zu können. 97 Hatten 1953 erst neun Prozent aller Haushalte einen Kühlschrank besessen und 26 Prozent einen Staubsauger, so waren es 1962/63 bereits 52 beziehungsweise 65 Prozent. 98 1959 verfügte jeder vierte Angestellten- und Beamten-und jeder achte Arbeiterhaushalt über einen eigenen Pkw. Mit vier Millionen zugelassenen Fahrzeugen 1960 stand Westdeutschland zwar erst am Beginn eines Automobil-Booms. 99 Doch im VW-Werk Wolfsburg rollte im August 1955 der millionste VW-Käfer vom Band – mit goldenem Lack, Brokatpolster und Edelsteinen an den Stoßstangen. Das Ereignis wurde mit der ganzen Belegschaft gefeiert, Generaldirektor Heinrich Nordhoff erhielt das große Bundesverdienstkreuz mit Stern.
Autos besaßen Kultcharakter, nicht nur (Luxus-)Limousinen und Straßenkreuzer, auch Kleinwagen und sogar Motorroller. Die Familie Bachmair eroberte sich das Allgäu und Oberbayern auf Sonntagsausflügen selbst mit einer Vespa. »Ich stand vorn zwischen den Beinen meines Vaters und hatte die Hände auf der Lenkstange«, erinnerte sich Tochter Angela. »Meine Mutter musste nach ganz hinten auf den Ersatzreifen rutschen und konnte dann zwischen meinen Vater und sich noch meinen kleinen Bruder quetschen. Nur abends auf der Heimfahrt war es problematisch, weil es nicht ganz sicher war, ob ich nicht wegen Müdigkeit im Stehen zusammensackte.« 100
Westdeutschland hatte das neue Jahrzehnt noch mit einer Arbeitslosigkeit von 12,2 Prozent begonnen. Durch den Wirtschaftsaufschwung stieg die Zahl der Arbeitsplätze jedoch rapide an: in der kunststoffverarbeitenden Industrie um fast 200 Prozent, im Maschinenbau und in der elektrotechnischen Industrie jeweils um fast eine halbe Million. Nicht nur alle Flüchtlinge und Vertriebenen wurden
integriert. Entgegen der ideologischen Vorgabe sog die Wirtschaft auch eine große Zahl verheirateter Frauen auf. 101
Arbeitskräftemangel gab es in einigen Bereichen bereits seit 1952. Als Erstes fehlten Arbeitskräfte in der südwestdeutschen Landwirtschaft und im Hotel- und Gaststättengewerbe, dann in Ziegeleien, Steinbrüchen, im Bergbau und im Straßen- und Brückenbau, durchgängig in Bereichen, die schwerste körperliche Arbeit verlangten. Mitte der 1950er Jahre existierten 220 000 offene Stellen. 102
Deutsche Unternehmer, das Wirtschaftsministerium und das Auswärtige Amt sprachen sich für eine Anwerbung von Ausländern aus; Bundesarbeitsministerium, Gewerkschaften, Vertriebenenverbände wehrten sich: Noch seien nicht alle Arbeitslosen, Vertriebenen und DDR-Flüchtlinge in den Arbeitsprozess integriert, außerdem halte der Flüchtlingsstrom aus der DDR an. Doch 1955 kam es mit Italien zur Unterzeichnung des ersten Abkommens zur Entsendung von Arbeitskräften nach Deutschland. Fünf Jahre später folgten entsprechende Vereinbarungen mit Spanien und Griechenland, danach mit der Türkei, Marokko, Portugal, Tunesien und Jugoslawien.
Um die komplizierte Anwerbeprozedur zu umgehen, reisten viele Italiener in der ersten Zeit einfach als Touristen oder illegal ein, wie Giovanni Corallo, der am 15. Juni 1956 in Saarbrücken eintraf. 103 Er kam ohne Pass, ohne Geld, im Gepäck gerade einmal drei Paar Socken, Unterhosen und ein bisschen Brot. Auf der Arbeit war er der einzige Italiener unter Deutschen, er verstand niemanden und niemand verstand ihn. Nach zwölf oder sogar fünfzehn Stunden Arbeit kehrte er zur Unterkunft zurück. »Das Schlimmste, was ich nie vergessen werde, war dieser Keller, fünf mal fünf Meter, drei Etagenbetten, Matratzen, wie sie die Penner unter den Brücken haben.« Dort kochte sich Giovanni Corallo die Spaghetti, die über Frankreich nach Deutschland kamen, dort wusch er am Wochenende die Socken und die Unterhose, die er die ganze Woche trug. »Ich war jung, das hatte ich alles noch nie gemacht, für mich war es eine große Mühe. Ich wollte nicht bleiben, alles hat mich wahnsinnig gemacht,
ich wollte nach Hause. Aber mein Bruder hat mich überredet, und ich bin noch ein Jahr geblieben.« 104
Trotz der Garantie einer arbeitsrechtlichen Gleichstellung mit deutschen
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