Endlich wieder Weiberabend: Roman (German Edition)
ihr nachlaufen und hole sie auf dem sanften Abhang oberhalb der Rosenbüsche ein. Sie sind in Form eines S gepflanzt und bilden zwei Kreise, Yin und Yang, in deren Mitte jeweils ein einzelner großer Stein steht. Die Büsche sind durstig und ermattet von der Anstrengung, den ganzen trockenen Sommer hindurch zu blühen. Maeve und ich setzen uns allerdings nicht auf das Bänkchen. Man macht ungern Pause in anderer Leute Trauer.
»Wie ging es weiter, nachdem du ihm die Wahrheit gesagt hattest?«
»Ich bin mit ihm nach Indien gereist.«
»Nach Indien?«
»Anschließend nach Ägypten und nach Westafrika. Ich wollte, dass er am Ufer des Ganges steht und sieht, wie die Kinder dort mit Stöckchen nach den Leichen stochern, die im Wasser treiben. Ich wollte, dass er zur Sphinx aufschaut, die so majestätisch über ihm aufragt, ein erstaunliches Zeugnis menschlicher Anstrengungen. Ich wollte, dass er zusieht, wie ein Ochse verblutet, den der Stamm der Mursi im Süden Äthiopiens aus Verzweiflung über den ausbleibenden Regen opfert. Von seinem zwölften bis zu seinem vierzehnten Lebensjahr hat er Armut und Tod und alles dazwischen aus solcher Nähe gesehen, dass er sie in Gerüchen beschreiben könnte. Er hat das ungeheure Ausmaß von Leid auf der Welt gesehen, über das man Bescheid wissen muss, damit man sich selbst daran messen kann.«
»War das nicht … gefährlich?«
»Oh, ja«, antwortet sie mit blitzenden Augen. »Aber ich habe ihn mit den Gefahren konfrontiert, weil ich wusste, dass er sich dadurch mutig weiterentwickeln würde. Als wir wieder zu Hause waren, habe ich eine Therapie begonnen.«
»Warum du?«
»Zwei Jahre auf Reisen waren nötig, damit sich bei mir eine entscheidende Erkenntnis herauskristallisierte. Jonahs Wut hatte wenig mit der Schule zu tun und auch nicht unbedingt mit seinem frühkindlichen Trauma – sie hatte mit mir zu tun.«
»Mit dir? Wie meinst du das?«
Sie lässt mich so nah an sich heran wie nie zuvor. Diese Unterhaltung fühlt sich zart und empfindlich an wie aus Spinnfäden. Sie könnte jeden Augenblick abreißen.
Maeve lehnt sich an den großen Stein in der Mitte und streckt den Rücken durch. Tennyson leckt ihr die Zehen ab, was sie mit einer Großmut duldet, die ich niemals aufbringen könnte. Sie nimmt ihre Brille ab und schaut mir tief in die Augen, als wollte sie mir ein heiliges Geheimnis verraten. »Ich musste lernen, ihm zu vertrauen.«
»Ihm zu vertrauen?«
Sie antwortet nicht sofort, als wollte sie, dass ich noch ein bisschen darüber nachdenke und vielleicht selbst darauf komme. Aber ich stelle mich nicht dumm, weil ich faul wäre. Ich warte darauf, es zu erfahren.
»Denk mal daran, wodurch er zu meinem Sohn wurde. Meine Schwester musste sterben, damit ich Jonahs Mutter werden konnte. Die Voraussetzung war schon vergiftet. Aber, verstehst du, wenn du deinem Kind nicht vertraust, kann es sich niemals selbst vertrauen.«
Ich wende mich ab und blicke über den Gedenkgarten zu der Senke und dem sanften Hang dahinter, wo das Anwesen vom Wald begrenzt wird. Ich würde nicht behaupten, dass ich Aaron nicht vertraue oder ihm nichts zutraue. Allerdings verwirrt er mich mit seiner Launenhaftigkeit und durch die Kleinigkeiten, die ausreichen, damit er sich bis in selbstzerstörerische Wut hineinsteigert. Er ist ein Testosteronrätsel, eine wilde Mischung aus Verletzlichkeit und Aggression, ein Wesen, das stachelig und flauschig zugleich ist, das die Zähne fletscht und sich im nächsten Moment wie verwandelt zeigt. Mein knurrendes Schätzchen. Mein bösartiger Engel.
Binnen eines Herzschlags springt er zwischen eitel Sonnenschein und Unwetter hin und her. Vor allem gibt er mir das Gefühl, lächerlich zu sein. Ich bringe ihn vor seinen Freunden in Verlegenheit, ich sage ständig das Falsche, ich verstehe ihn nicht, er will in Ruhe gelassen werden, ich gehe ihm auf die Nerven. Ein paar Minuten später will er mir in allen Einzelheiten von LeBron James’ letztem Punktedurchschnitt erzählen oder von dem superwitzigen Clip auf Youtube, in dem sie sich gegenseitig die Suspensorien klauen und der schon zwanzig Millionen Mal angeklickt wurde. Binnen einer Sekunde schlägt er von rasender Wut in Euphorie um. Hat er eine bipolare Störung? ADHS? ADS? Ist das ein erster Testosteronschub? Oder zu viel Zucker? Er erschreckt und bezaubert mich zugleich. Aber vor allem habe ich Angst um ihn. Mir graut vor dem Tag, an dem all diese Energie sich in einem achtzehnjährigen Jungen
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