Endlich
Poesie auch vernünftig? Vielleicht hat sie ihre eigene Vernunft im Hinblick auf die Emotionen. Ich kann mich erinnern, wie ich mir nach fürchterlichen Momenten voll Liebe und Hass gedacht habe, ich sei, sozusagen, als Gewinner aus der Sache herausgekommen und habe eine Kraft aus dieser Erfahrung geschöpft, die ich auf keine andere Weise erlangt hätte. Und ein-, zweimal, als ich aus einem Autounfallwrack stieg oder nach einer sehr prekären Begegnung mit der Gewalt als Auslandsreporter unversehrt weiterging, hatte ich ein recht illusorisches Gefühl, diese Begegnung habe mich härter gemacht. Aber eine solche Empfindung läuft ja in Wirklichkeit nur hinaus auf: Glück gehabt – du warst es diesmal nicht, was in frömmeren Zeiten lediglich hieß: Die Gnade Gottes hat mich verschont und einen anderen getötet.
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In der gemeinen körperlichen Welt und in jener Welt, welche die Medizin umschließt, gibt es nur allzu viele Dinge, welche einen töten könnten, einen dann doch nicht töten, einen aber dabei bedeutend schwächer machen. Nietzsche war es bestimmt, dies am eigenen Leib zu erfahren, was es besonders verwunderlich macht, dass er diese Maxime in seine Sammlung Götzen-Dämmerung (1889) aufnahm. (Der Titel spielt auf Wagners Götterdämmerung an. Vielleicht gehörte sein großer Streit mit Wagner, in dem er entsetzt dessen Verwerfung der Antike zugunsten germanischer Mythen und Legenden des Blutes bekämpfte, zu den Dingen, die Nietzsche moralische Kraft und Mut gaben. Jedenfalls hat der Untertitel des Buches – »Wie man mit dem Hammer philosophiert« – eine gewisse Grandezza.)
Nietzsche scheint sich früh mit Syphilis infiziert zu haben, sehr wahrscheinlich bereits bei seiner ersten sexuellen Begegnung, und später litt er dann unter fürchterlicher Migräne und partieller Erblindung, bis die Krankheit zu Demenz und Paralyse metastasierte. Dies brachte ihn zwar nicht sofort um, doch trug es zum Heranrücken des Todes bei und machte ihn jedenfalls bestimmt nicht stärker. Im Verlauf seiner zunehmenden geistigen Verwirrung gelangte er zu der Überzeugung, dass er – neben vielen anderen Inkarnationen – auch »der Dichter des Shakespeare Lord Bacon« sei. Der Theorie anzuhängen, dass die Werke Shakespeares von Bacon verfasst sind, ist ein unweigerliches Zeichen fortgeschrittener intellektueller und geistiger Hinfälligkeit.
(Mich interessiert der Zusammenhang ein wenig, weil ich vor nicht allzu langer Zeit von einem Radiosender im tiefsten Süden der USA zu einer Diskussion über Religion eingeladen wurde. Mein Interviewpartner blieb durchgehend bei einer sorgfältigen Südstaaten-Höflichkeit und ließ mir immer Zeit, meine Argumente zu formulieren; dann überraschte er mich mit der Frage, ob ich mich in irgendeinem Sinne als Nietzscheaner betrachte. Ich verneinte das und sagte, ich stimme mit einigen Argumenten überein, die der große Mann vorgebracht habe, schulde ihm aber keine tiefen Einsichten und fände seine Verachtung für die Demokratie abstoßend. H. L.Mencken und andere hätten ihn im Übrigen dazu verwendet, um krude sozialdarwinistische Behauptungen vorzubringen, was die Sinnlosigkeit irgendeiner Hilfe für die »Schwachen« anginge. Und seine fürchterliche Schwester Elisabeth habe seine eigene Geistesschwäche ausgenutzt und sein Werk missbraucht und so getan, als sei es zur Unterstützung der antisemitisch-völkischen Bewegung in Deutschland geschrieben worden. So habe Nietzsche vielleicht nun den unverdienten Ruf eines Fanatikers. Der Frager bedrängte mich weiter: Ob ich wisse, dass ein großer Teil von Nietzsches Werk entstanden sei, während er an tertiärer Syphilis litt? Ich erwiderte, das hätte ich auch gehört, und ich sähe keinen Grund, es anzuzweifeln, obwohl ich keine endgültige Bestätigung hätte. Gerade als die Sendung zu Ende ging und die Musik einsetzte und ich hörte, dass das leider alles wäre, wofür wir hier Zeit hätten, schlug mein Gastgeber rasch noch zu und fragte sich laut, wie viel meiner eigenen Äußerungen über Gott vielleicht von einer ähnlichen Erkrankung beeinflusst gewesen sein mochte. Ich hätte diesen Trick kommen sehen müssen! Doch es war zu spät; ich war zur Sprachlosigkeit verurteilt.)
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Spät im Leben und unter elenden Umständen in Turin überwältigte Nietzsche der Anblick eines auf der Straße misshandelten Pferdes. Er lief hin und warf die Arme um den Hals des Tieres, und er erlitt einen schrecklichen Anfall. Den Rest seines
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