Endlich
Glücksgefühl dabei. Soweit gekommen zu sein! Wie die traurigen Figuren, die in Apotheken einbrechen, um Oxycodon zu klauen. Aber es war eine Milderung der Langeweile, ein kleines (schuldbeladenes) Vergnügen (von denen gibt es nicht viele in Tumorhausen) und nicht zuletzt eine Linderung des Schmerzes.
In meiner englischen Familie hatte die Rolle des Nationaldichters nicht Philip Larkin, sondern John Betjeman inne, der Barde der Vorstädte und der Mittelschicht – ein sehr viel bissigerer Lyriker, als seine etwas teddybärhafte öffentliche Erscheinung hätte erwarten lassen. Sein Gedicht »Five O’Clock Shadow« zeigt ihn von dieser unerwarteten Seite:
This is the time of day when we in the Men’s Ward
Think »One more surge of the pain and I give up the fight«,
When he who struggles for breath can struggle less strongly:
This is the time of day which is worse than night.
Das ist die Tageszeit, da denken wir in der Männerabteilung:
»Noch so ein Schmerz und ich geb’s auf. Es ist vollbracht.«
Der nach Atem ringt, hat jetzt den Ringkampf fast schon verloren.
Das ist die Tageszeit, die schlimmer ist als die Nacht.
Dieses Gefühl kenne ich nun in der Tat sehr gut: die Überzeugung, dass der Schmerz nie mehr fortgehen wird und dass das Warten auf den nächsten Schuss ungerecht lange dauert. Dann ein plötzlicher Anfall von Atemnot, gefolgt von sinnlosem Gehuste und – wenn es ein lausiger Tag ist – mehr Expektoration, als ich bewältigen kann: Literweise Speichel, gelegentlich Schleim, und was soll denn jetzt bitte dieses Sodbrennen? Ich habe ja gar nichts gegessen – meine Nahrung erhalte ich ausschließlich durch einen Schlauch. All dies und die kindische Erbitterung, die all dies begleitet, ergeben eine Willensschwächung. Ebenso der verblüffende Gewichtsverlust, gegen den der Schlauch machtlos scheint. Ich habe nun seit der Krebsdiagnose fast ein Drittel meiner Körpermasse verloren. Der Tumor tötet mich vielleicht nicht, aber die Muskelatrophie macht es immer schwieriger, auch nur jene simplen Übungen durchzuführen, ohne die ich noch schwächer werde.
*
Ich tippe dies, nachdem ich soeben eine Spritze bekommen habe, welche die Schmerzen in meinen Armen, Händen und Fingern lindern soll. Die hauptsächliche Nebenwirkung der Schmerzen ist ein taubes Gefühl in den Extremitäten, das mich mit der nicht ganz irrationalen Angst erfüllt, ich könne die Fähigkeit zu schreiben verlieren. Ohne diese würde, das weiß ich jetzt schon, mein Überlebenswille sich stark reduzieren. Ich sage oft mit großer Geste, dass das Schreiben nicht nur mein Beruf und mein Lebensunterhalt ist, sondern mein Leben schlechthin, und das ist wahr. Fast wie beim drohenden Verlust meiner Stimme – deren Zustand gegenwärtig durch Injektionen in meine Stimmfalten zeitweilig verbessert wird – habe ich das Gefühl, dass meine Persönlichkeit und meine Identität sich auflösen, während ich die Möglichkeit erwäge, dass meine Hände absterben und die Transmissionsriemen, die mich mit dem Schreiben und Denken verbinden, stillgelegt werden.
Es gibt auch voranschreitende Schwächungen, die in einem »normaleren« Leben Jahrzehnte gebraucht hätten, um wirksam zu werden. Aber es ist wie mit dem normalen Leben: Man stellt fest, dass jeder Tag unerbittlich mehr und mehr von dem abzieht, was ohnehin schon weniger und weniger geworden ist. Mit anderen Worten – der Prozess zehrt dich aus und schiebt dich gleichzeitig näher an den Tod heran. Wie könnte es anders sein? Gerade hatte ich begonnen, hierüber nachzudenken, als ich auf einen Artikel zur Behandlung posttraumatischer Belastungsstörung stieß. Wir wissen jetzt aus teuer erkaufter Erfahrung sehr viel mehr über diese Krankheit als früher. Offenbar ist eines der Symptome, in denen sie sich zeigt, die Neigung des zähen Veteranen, über seine Erlebnisse zu sagen: Was mich nicht umgebracht hat, hat mich stärker gemacht. Dies ist eine der Formen, welche die Verdrängung annimmt.
Mich interessiert die Etymologie des deutschen Wortes stark und seines von Nietzsche verwendeten Komparativs stärker . Wenn man im Jiddischen jemanden ä starker nennt, bedeutet das, dass man in ihm einen Militanten sieht, einen zähen Burschen, einen hart Arbeitenden. Bis jetzt habe ich mich entschieden, alles abzuwehren, was mir die Krankheit an den Kopf werfen kann, und weiterhin kämpferisch zu reagieren, auch während ich meinen unausweichlichen Niedergang beobachte. Es ist dies, ich
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