Endlich
dem man gewöhnlich debattiert, ob Blindheit oder Taubheit schlimmer wäre. Aber ich kann mich nicht erinnern, je besonders darüber nachgedacht zu haben, wie es wäre, plötzlich stumm zu sein. Hat man plötzlich die Fähigkeit zu sprechen verloren, ist dies eher wie das Auftreten von Impotenz oder wie die Amputation eines Teils der Persönlichkeit. In starkem Maße war ich in der Öffentlichkeit wie privat meine Stimme. Die Etikette der Konversation, ihr ganzes Ritual vom Räuspern vor dem Erzählen eines besonders langen und anstrengenden Witzes bis zu dem (in jüngeren Zeiten eingesetzten) Senken der Stimme um eine Oktave, um ein Liebeswerben durch Vortäuschen beschämter Verlegenheit überzeugender klingen zu lassen, war für mich natürlich und wesentlich. Ich habe nie singen können, aber einst konnte ich Gedichte aufsagen und Prosa zitieren und wurde manchmal sogar dazu aufgefordert. Und das Timing ist alles: Der wunderbare Moment, wenn man jemanden unterbrechen und eine Anekdote überbieten kann, wenn man einen Satz umdreht, dass alles lacht, wenn man einen Gegner der Lächerlichkeit preisgibt. Für solche Augenblicke habe ich gelebt. Wenn ich mich jetzt an einer Konversation beteiligen möchte, muss ich mir auf irgendeine andere Weise Aufmerksamkeit verschaffen und dann den furchtbaren Umstand ertragen, dass die Leute mir »mitfühlend« zuhören. Zumindest müssen sie’s nicht lange tun. Ich kann nicht mehr lange, und so oder so halt ich’s nicht aus.
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Wenn man krank wird, schicken einem die Leute CDs. Diese sind meiner Erfahrung nach sehr häufig von Leonard Cohen. Deshalb habe ich kürzlich einen Song kennengelernt, der den Titel hat »If It Be Your Will«. Er ist ein bisschen süßlich, aber wunderschön gesungen, und so fängt er an:
If it be your will,
That I speak no more,
And my voice be still
As it was before …
Wenn es dein Wille ist,
Dass ich nichts mehr sage,
Dass meine Stimme stumm ist,
Wie sie zuvor es war …
Ich habe festgestellt, dass man sich das lieber nicht spät in der Nacht anhören sollte. Leonard Cohen ist unvorstellbar ohne seine Stimme und untrennbar von ihr. (Ich bezweifle inzwischen, dass ich diesen Song von irgendjemandem sonst hören könnte oder wollte.) Irgendwie – sage ich mir – werde ich weiterstolpern, indem ich mich schriftlich verständige. Aber das ist nur wegen meines Alters möglich. Wenn mir meine Stimme früher geraubt worden wäre, hätte ich wohl nie viel auf dem Papier zustande gebracht. Ich stehe tief in der Schuld von Simon Hoggart vom Guardian (dem Sohn des Verfassers von The Uses of Literacy) , der mir vor etwa fünfunddreißig Jahren mitteilte, dass einer meiner Artikel argumentativ gut konstruiert sei, aber langweilig; und er riet mir, »eher so zu schreiben, wie Sie reden«. Damals war ich fast sprachlos angesichts des Vorwurfs, ich schriebe langweilig, aber im Lauf der Zeit begann ich zu begreifen, dass meine Angst vor Selbstverliebtheit und dem Personalpronomen in sich etwas Selbstgefälliges hatte.
Meine Schreibseminare begann ich dann später gerne mit dem Satz, dass jeder, der reden kann, auch schreiben kann. Nachdem ich die Studenten auf diese Weise aufgemuntert hatte, erschreckte ich sie umgehend durch die Frage: »Wie viele in dieser Klasse, was meinen Sie, können reden? Ich meine, wirklich reden?« Das tat seine deprimierende Wirkung. Ich sagte ihnen, sie sollten jeden ihrer Aufsätze privat laut vortragen – am besten einem verlässlichen Freund. Die Regeln sind weitgehend dieselben: Meiden Sie alle Phrasen (»wie die Pest«, pflegte William Safire zu sagen) und Wiederholungen. Sagen Sie nie, dass als Junge Ihre Großmutter Ihnen immer vorgelesen hat, es sei denn, sie war zu jener Zeit ihres Lebens wirklich ein Junge; in diesem Fall hätten Sie dem Bericht wohl einen interessanteren Anfang geben können. Wenn etwas wert ist, dass man ihm lauscht, ist es sehr wahrscheinlich auch lesenswert. Also vor allem: Finden Sie Ihre eigene Stimme.
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Das schönste Kompliment, das ein Leser mir machen kann, ist, dass er mir sagt, er fühle sich persönlich angesprochen. Denken Sie an Ihre Lieblingsautoren und fragen Sie sich, ob das nicht genau einer der Züge ist, die Sie an ihnen schätzen, oft ohne es gleich zu bemerken. Ein gutes Gespräch ist das Einzige, was dem entspräche: Zu spüren, dass anständige Argumente vorgebracht und begriffen werden, dass Ironie im Spiel ist und Elaboration und dass eine platte oder langweilige
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