Endlich
schmerzgepeinigten und umnachteten Lebens verbrachte er dann wohl in der Pflege seiner Mutter und seiner Schwester.
Das Datum des traumatischen Erlebnisses in Turin ist vielleicht von Interesse; es ereignete sich 1889, und wir wissen, dass er 1887 stark von der Entdeckung Dostojewskis beeinflusst worden war. Es scheint eine fast unheimliche Ähnlichkeit zwischen der Episode auf der Straße in Turin und dem schlimmen, eindringlichen Traum Raskolnikows in der Nacht vor dem Mord in Schuld und Sühne zu geben. In diesem Alptraum, der sich unmöglich vergessen lässt, wenn man ihn einmal gelesen hat, kommt das entsetzlich lange, ausgedehnte Zu-Tode-Prügeln eines Pferdes vor. Der Besitzer peitscht das Tier in die Augen, zerschlägt ihm die Wirbelsäule mit einem Pfahl, ruft herumstehende Zuschauer auf, ihm bei der Prügelei zu helfen … Nichts bleibt uns erspart.
Wenn diese grauenvolle Koinzidenz genügte, Nietzsches endgültigen Wahnsinn herbeizuführen, dann muss er durch seine anderen, hiermit nicht zusammenhängenden Leiden ungeheuer geschwächt und völlig verletzlich gewesen sein. Sie haben ihn also keineswegs stärker gemacht. Er kann – auf sich selbst bezogen – äußerstenfalls gemeint haben, dass er die wenigen ihm verbliebenen Pausen ohne Schmerzen und ohne Wahn nun gezielt verwende, um seine Sammlung von scharf pointierten Aphorismen und Paradoxa niederzuschreiben. Das mag ihm das euphorische Gefühl eingetragen haben, dass er triumphierte und den Willen zur Macht gebrauchte. Götzen-Dämmerung wurde tatsächlich fast gleichzeitig mit dem entsetzlichen Erlebnis in Turin veröffentlicht, so dass die Koinzidenz sich bis zum höchsten Grad steigerte.
Nehmen wir ein Beispiel aus dem Leben eines ganz anderen und wesentlich maßvolleren Philosophen, der unserer Zeit näher ist. Professor Sidney Hook war ein berühmter Materialist und Pragmatist, der Abhandlungen schrieb, in denen er eine Synthese aus John Dewey und Karl Marx versuchte. Auch er war ein unnachgiebiger Atheist. Gegen Ende seines langen Lebens wurde er ernsthaft krank und begann, über das Paradoxon nachzudenken, dass er – der quasi im medizinischen Mekka wohnte, nämlich in Stanford, Kalifornien – hier historisch einmalige Möglichkeiten der Pflege vorfand, während er gleichzeitig einen Grad des Leidens ertragen musste, den vorherige Generationen sich nicht hatten leisten können. Nach einer besonders qualvollen Episode, von der er sich schließlich doch wieder erholt hatte, entschied er, dass er eigentlich lieber gestorben wäre:
Ich lag da und war dem Tode nahe. Wegen eines durch Kongestion drohenden Herzversagens wurde zu diagnostischen Zwecken ein Angiogramm erstellt, was einen Schlaganfall auslöste. Ein schmerzhafter, ruckender Schluckauf trat mehrere Tage und Nächte ununterbrochen auf und verhinderte die Nahrungsaufnahme. Meine linke Seite und eins meiner Stimmbänder waren paralysiert. Eine Art Rippenfellentzündung trat auf, und ich hatte das Gefühl, in einem Meer von Schleim zu ertrinken. In einem meiner lichten Momente während dieser Tage der Qual sagte ich meinem Arzt, er solle alle lebenserhaltenden Maschinerien abschalten oder mir zeigen, wie man das machte.
Der Arzt lehnte ab und versicherte Hook in erhabenem Tonfall, »eines Tages würde ich die Unweisheit meiner Forderung begreifen«. Doch der stoische Philosoph blieb auch, nachdem er sich erholt hatte und weiterleben konnte, dabei, er wünsche, man hätte ihm gestattet, dahinzugehen. Er gab drei Gründe an: Ein weiterer qualvoller Schlag könnte ihn ereilen und ihn weiter leiden lassen; seine Familie musste Höllisches durchmachen; medizinische Kapazitäten wurden sinnlos verschwendet. In seinem Essay zitierte er eine bekannte Formulierung, um die Lage anderer, die Ähnliches erleiden, zu bezeichnen – sie lägen in »Matratzengrüften«.
Wenn man das dem Leben Zurückgegebenwerden nicht als etwas rechnet, das einen nicht umbringt – was dann? Und doch scheint es keine erdenkliche Art und Weise zu geben, in der Hook »stärker« geworden sein könnte durch das, was er durchgemacht hatte. Tatsächlich scheint er seine Aufmerksamkeit nur darauf konzentriert zu haben, wie jede Schwächung auf der vorhergegangenen aufbaut, so dass ein kumulatives Elend mit nur einem einzigen möglichen Ausgang entsteht. Wenn es nämlich anders wäre, dann würde jeder Anfall, jeder Schlag, jeder widerliche Schluckauf, jede Schleimattacke den Menschen aufbauen und den Widerstand
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