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Endlich

Endlich

Titel: Endlich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christopher Hitchens
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Bemerkung fast körperlich schmerzhaft wäre. So hat sich die Philosophie beim Symposion entwickelt, ehe sie niedergeschrieben wurde. Und die Dichtung begann mit der Stimme als einzigem Akteur und dem Ohr als einzigem aufzeichnendem Instrument. Tatsächlich fällt mir auch kein wirklich guter Schriftsteller ein, der taub gewesen wäre. Wie hätte man je – selbst mit der klugen Zeichensprache des großen Abbé de l’Épée – die winzigen Zuckungen und Ekstasen der Nuancierung schätzen können, welche die wohlmodulierte Stimme übermittelt? Henry James und Joseph Conrad haben ihre späteren Romane diktiert (was als eine der größten stimmlichen Leistungen aller Zeiten gelten muss, obgleich es dem Text vielleicht gutgetan hätte, wenn der Autor sich einiges noch einmal hätte vorlesen lassen), und Saul Bellow diktierte den größten Teil von Humboldt’s Gift . Ohne unser entsprechendes Gefühl für den Idiolekt, für die Art und Weise, wie ein Individuum tatsächlich spricht und insofern auch schreibt, müssten wir einen ganzen Kontinent menschlicher Sympathien entbehren wie auch kleinere Vergnügungen: Nachahmung, Parodie.
    *
    Ernsthafter: »Was ich habe, ist nur eine Stimme«, schrieb W.H. Auden in »1. September 1939«, seinem zerquälten Versuch, den Triumph des radikal Bösen zu begreifen und sich ihm zu widersetzen. »Wer kann sich an die Tauben wenden?« fragte er verzweifelt. »Wer kann für die Stummen sprechen?« Etwa zur selben Zeit erkannte die deutsch-jüdische Dichterin Nelly Sachs, die später den Nobelpreis bekommen sollte, dass das Hervortreten Hitlers sie buchstäblich sprachlos hatte werden lassen: Sie war durch die krasse Negation aller Werte ihrer Stimme beraubt. Selbst unsere Alltagssprache bewahrt, wenn auch in schwacher Form, eine derartige Vorstellung: Wenn ein engagierter Mann des öffentlichen Dienstes stirbt, steht oft in den Nachrufen, er sei »eine Stimme« der Menschen gewesen, die sonst ungehört bleiben.
    Aus der menschlichen Kehle können auch schreckliche Laute hervorgehen: Gebrüll, Litanei, Gewinsel, hetzerisches Geschrei (»windigster militanter Quatsch«, wie Auden es in demselben Gedicht nannte) und das sardonische Husten. Es ist die Gelegenheit, ruhige, leise Stimmen gegen diesen Katarakt von Geplapper und Lärm zu setzen, die Stimmen des Witzes und des Understatements, nach der man sich sehnt. All die besten Erinnerungen an Weisheit und Freundschaft, von Platons Dialogen mit den Auftritten des Sokrates bis zu Boswells Leben Johnsons , hallen wider von den gesprochenen, spontanen Momenten des Zusammenspiels, der Vernunft und der Spekulation. In solchem Aufeinandertreffen, im Wettbewerb und Vergleich mit anderen, darf man hoffen, das scheue, magische mot juste zu erwischen. Für mich besteht die Erinnerung an Freundschaft in der Beschwörung jener Unterhaltungen, die abzubrechen eine Sünde schien – derjenigen, die das Aufopfern des nächsten Tages gering erscheinen ließen. So hat sich Kallimachos seines geliebten Herakleitos erinnert (in der schönen Übertragung ins Englische von William Cory):
    They told me, Heraclitus; they told me you were dead.
    They brought me bitter news to hear, and bitter tears to shed.
    I wept when I remembered how often you and I
    Had tired the sun with talking, and sent him down the sky.
    Sie sagten, Herakleitos, sie sagten, du bist tot,
    Sie brachten bittere Nachricht und bitterer Tränen Not:
    Ich weinte: Wie oft haben die Sonne du und ich
    Mit unseren Reden müd gemacht, dass sie vom Himmel wich.
    Tatsächlich beruht sein Anspruch auf Unsterblichkeit für den Freund auf dem Wohlklang von dessen Stimme.
    Still are thy pleasant voices, thy nightingales, awake,
    For Death, he taketh all away, but them he cannot take.
    Noch leben deine Stimmen fort, die schönen Nachtigallen,
    Nie werden sie dem Tod, der alles holt, verfallen.
    Vielleicht steckt in der letzten Zeile ein wenig zu viel Erhebendes …
    *
    In der medizinischen Literatur ist das Stimm«band« – cord – eine bloße »Falte«, ein Stück Knorpel, das sich vorreckt und seinen Zwilling zu erreichen sucht, was die Möglichkeit von Klangwirkung ergibt. Aber ich habe das Gefühl, dass hier eine tiefe Beziehung zu dem Wort für den musikalischen Akkord, chord , besteht, dem tönenden Klang, der Erinnerung ruft, Musik erzeugt, Liebe beschwört, Tränen fließen lässt, Menschenmengen zum Mitgefühl und Massen zur Leidenschaft erregt. Wir sind vielleicht nicht, wie wir uns einst

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