Endspiel - Genie und Wahnsinn im Leben der Schachlegende Bobby Fischer
Schach ein ganz neues Image, und zwar nicht nur in den USA. In New Yorks Kaufhäusern wie Macy’s und Bloomingdale’s waren die Schachgarnituren ausverkauft. Auch die Verleger Bobbys zweier Bücher, Meine 60 denkwürdigen Partien und Bobby Fischer lehrt Schach , hatten Schwierigkeiten, mit der Nachfrage mitzuhalten. Schachclubs im ganzen Land sahen ihre Mitgliederzahlen in die Höhe schnellen; während des Weltmeisterschaftskampfs verdoppelte sich die Mitgliederzahl des Marshall auf 600. Der amerikanische Schachbund verzeichnete gar Zehntausende Neumitglieder. Zum ersten Mal konnten Großmeister so viel Schachunterricht geben, dass sie davon auch leben konnten. Leute spielten bei der Arbeit, während der Mittagspause, in Restaurants, auf den Treppen vor ihren Häusern und in Hinterhöfen. Es gibt keine verlässlichen Zahlen darüber, wie viele Menschen der öffentliche Zirkus um den Fischer-Spasski-Kampf zum Schachspiel gebracht hat, aber einige Schätzungen gehen in die Millionen.
Spasski, der öffentlichen Wirbel viel weniger gewohnt war als Bobby, stand unter gewaltigem Druck von außen. Darunter mag die Qualität seines Spiels gelitten haben: In der fünften Partie unterlief ihm beim 27. Zug der vielleicht schlimmste Patzer seiner Karriere. Nur wenige Züge später gab er auf und beendete diese so wichtige Partie in Rekordzeit.
Der Großmeister Miguel Najdorf, der das Duell als Zuschauer verfolgte, verglich die nächste Partie, die sechste, mit einer Mozart-Symphonie. Fischer baute einen furiosen Angriff auf und verstrickte Spasski in ein Netz, in dem dieser sich hoffnungslos verfing. Fischer ließ später erkennen, dass diese Partie ihm die liebste des gesamten Titelkampfs war. Viele Großmeister wie etwa Larry Evans sahen in dieser Partie bereits die Vorentscheidung für das gesamte Match, so bestechend hatte Bobby gespielt.
Schon tönte Fischer Freunden gegenüber, in zwei Wochen werde er Weltmeister sein. Er wurde geselliger und versuchte sich sogar an trockenem, fast schon britischem Humor. Einmal sah er Anfang August aus dem Panoramafenster seines Hotelzimmers ins graue, kalte nördliche Nichts und scherzte: »Ich mag Island. Ich sollte mal im Sommer wiederkommen.«
Was bisher nicht bekannt war: Regina flog von London nach Island, mit blonder Perücke und modischer Kleidung getarnt, und besuchte Bobby in seinem Hotel. Sie wünschte ihm alles Gute und gratulierte ihm zur fast schon gesicherten Weltmeisterschaft. Sie reiste anonym, weil sie fürchtete, die Neugier der Journalisten auf sie würde ihrem Sohn das Rampenlicht stehlen. Sie übernachtete zwar in Bobbys Suite, ging aber nicht in die Laugardalshöll, um ihn spielen zu sehen, sondern flog gleich wieder nach England zurück.
In vielfacher Hinsicht war die ominöse 13. Partie das Schlüsselspiel der gesamten Begegnung. Als die Partie abgebrochen wurde, war Fischer zwar mit einem Bauern vorn, aber in schwieriger Lage. Er grübelte die ganze Nacht durch, doch es fiel ihm nichts Gutes ein. So spielte er nach Wiederaufnahme gezwungenermaßen auf ein Remis hin. Bis dem offensichtlich erschöpften Spasski – die Partie dauerte insgesamt neuneinhalb Stunden – beim 69. Zug erneut ein Patzer unterlief. Als Spasski kurz darauf seinen Fehler bemerkte, konnte er kaum mehr aufs Brett schauen, so sehr schmerzte ihn der Anblick. Fischer nahm Spasskis Geschenk natürlich an, zog und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Lange starrte er den Russen grimmig an und musterte dessen Gesichtsausdruck. Lange, lange nahm er seine Augen nicht von Spasski.
Aus Fischers Augen war in der Tat auch ein wenig Mitleid abzulesen, wodurch die Episode zu einer wahrhaft aristotelischen Tragödie wurde: Spasskis Schauer, verbunden mit Fischers Jammer. Endlich zog Spasski, gab aber nach dem 74. Zug auf.
Nach diesem Sieg spielte Fischer eine Zeit lang auf Nummer sicher, um seinen Drei-Punkte-Vorsprung nach Hause zu fahren. Aufgrund dieser untypischen Vorsicht endeten die nächsten sieben Partien (Nummer 14 bis 20) remis.
Nach 20 Partien stand es 11½ zu 8½ für Fischer. Er brauchte daher aus den verbleibenden vier Partien nur noch einen Punkt – zwei Remis oder einen Sieg –, um dem Russen und der Sowjetunion die Schachkrone zu entwinden. Der Titel war ihm praktisch nicht mehr zu nehmen.
Kurz vor der letzten Wettkampfwoche veröffentlichte die sowjetische Delegation eine lange, absurde Erklärung, in der sie Fischer vorwarf, den Weltmeister durch »chemische Substanzen
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