Endspiel - Genie und Wahnsinn im Leben der Schachlegende Bobby Fischer
oder elektronische Mittel zu beeinflussen«. Um der Legendenbildung vorzubeugen, prüfte die Polizei Reykjaviks mit Unterstützung durch isländische Wissenschaftler, ob an diesen Vorwürfen irgendetwas dran sei. Man nahm Spasskis Drehstuhl auseinander, durchleuchtete ihn, nahm Proben der Umgebung und analysierte sogar die Luft auf der Bühne. Das Bild, wie ein dicklicher Polizist mit einer leeren Plastiktüte über die Bühne tapste und versuchte, die Luft »einzufangen«, hätte auch aus einer Chaplin-Komödie stammen können. In der Tat enthielt Spasskis Stuhl eine Substanz, die in Fischers ansonsten identischer Sitzgelegenheit fehlte: einen Klumpen Holzspachtelmasse, der bei der Herstellung irgendwie hineingeraten sein musste. Fischer lachte, als er davon hörte, und sagte, er hätte erwartet, dass die Sowjets zu gröberen Mitteln griffen.
Die Durchleuchtung von Spasskis Stuhl wurde unter anderem von Donald Schultz aus Fischers Team überwacht, der auch die Röntgenaufnahme sah. Er sah jedoch auch eine zweite Röntgenaufnahme, auf der der Klumpen plötzlich fehlte. Er wurde den Verdacht nicht los, dass einer der Russen etwas in den Stuhl geschmuggelt hatte, um Bobby zu belasten, es dann aber wieder entfernt hatte, um den Sowjets die Blamage zu ersparen, sie womöglich als Urheber dieses Täuschungsmanövers zu entlarven.
Die Sowjets verlangten außerdem, dass eine Beleuchtungsanlage über der Bühne auseinandergenommen würde, um nachzuprüfen, ob darin ein elektronisches Gerät zur Manipulation Spasskis versteckt war. Ein Polizist schraubte daraufhin die Birne heraus und rief von seiner Leiter herunter, dahinter liege etwas. Russen und Amerikaner liefen prompt zum Fuß der Leiter, als der Polizist mit seiner Entdeckung herabstieg: »Zwei tote Fliegen!«
Damit endete die polizeiliche Ermittlung: Es war peinlich klar geworden, dass die Sowjets angesichts des bevorstehenden Verlusts des Weltmeistertitels nach Vorwänden suchten, um Bobbys Leistung kleinzureden. Die Londoner Times fasste den Schach-Zirkus auf humorig pointierte Art zusammen: »Das Ganze begann als Farce von Beckett – Warten auf Godot . Dann verwandelte es sich in eine kafkaeske Tragödie. Jetzt geht das Ganze über Kafka hinaus. Vielleicht könnte Strindberg ihm gerecht werden.«
Die 21. Partie begann am 31. August. Fischer spielte mit Schwarz ein herausragendes Endspiel. Als die Partie abgebrochen wurde, sah Fischer wie der sichere Sieger aus. Damit wäre der Weltmeisterschaftskampf beendet gewesen: Bobby brauchte 12½ Punkte, um Spasski zu schlagen und Weltmeister zu werden, und mit einem Sieg hätte er diese magische Zahl erreicht.
Am folgenden Tag traf Harry Benson, einer der Hauptfotografen für Time Life , Spasski im Hotel Saga. »Es gibt einen neuen Champion«, sagte Spasski. »Ich bin nicht traurig. Das war ein Sportereignis, und ich habe verloren. Bobby ist der neue Weltmeister. Jetzt muss ich spazieren gehen und ein wenig Luft schnappen.«
Benson fuhr umgehend zum Hotel Loftleiðir und rief Bobby auf dem Haustelefon an. »Sind Sie sicher, dass es offiziell ist?«, fragte Fischer. Als ihm das bestätigt wurde, sagte er: »Nun, danke.«
Um 14.47 Uhr erschien Fischer auf der Bühne der Laugardalshöll, um sein Partieformular zu unterschreiben. Schmid verkündete anschließend offiziell: »Ladies und Gentlemen, Mr. Spasski hat um 12.50 Uhr telefonisch aufgegeben. Dies ist eine bewährte und korrekte Weise. Mr. Fischer hat diese Partie gewonnen, Nummer 21, und damit den gesamten Wettkampf.«
Das Publikum rastete aus. Fischer lächelte, als Schmid ihm die Hand gab, dann nickte er ein wenig unbeholfen ins Publikum und ging ab. Kurz bevor er die Bühne verließ, hielt er kurz inne und blickte über die Menge, als wolle er winken oder etwas sagen. Doch dann verschwand er rasch hinter der Bühne und verließ das Gebäude. Sein Auto, das von seinem Leibwächter Saemi Palsson gefahren wurde, verschwand in einer Menschentraube. Fernseh- und Radioreporter richteten Kameras und Mikrofone auf die geschlossenen Scheiben. Erst unterwegs erlaubte Fischer sich ein breites, bübisches Grinsen. Er war Schachweltmeister.
Zwei Tage später fand zu seinen Ehren ein üppiges Bankett in der Laugardalshöll statt. Boris Spasski war gekommen, ebenso der Schiedsrichter Lothar Schmid und der FIDE-Präsident Dr. Max Euwe. Das Ereignis war schon vor Wochen geplant worden, die Eintrittskarten waren längst vor der entscheidenden Partie ausverkauft gewesen.
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