Endspiel - Genie und Wahnsinn im Leben der Schachlegende Bobby Fischer
ich diese unglaubliche Situation unter Kontrolle bekommen.«
Die Männer beruhigten sich ein wenig und redeten. Schmid legte den Arm um Spasskis Schulter und sagte: »Boris, Sie haben mir versprochen, hier zu spielen. Wollen Sie das Versprechen brechen?« Dann wandte er sich an Fischer und sagte: »Bobby, bitte seien Sie so nett.«
Etwa zehn Sekunden lang starrte Spasski vor sich hin und überlegte. Dann setzte er sich wieder hin. Fischer wurde informiert, dass es sich um eine geräuschlose Videokamera handelte, die die Partie auf eine große Leinwand im Zuschauerraum übertrug. Es würde keine Aufzeichnung stattfinden. Damit gab er sich tatsächlich zufrieden.
Fischer entschuldigte sich knapp für seinen Ausbruch, dann machten sich die zwei Männer endlich an die Arbeit. Sie spielten eine der besten Partien des gesamten Weltmeisterschaftskampfs. Nach seinem siebten Zug verließ Fischer kurz den Raum. Auf seiner Uhr waren 15 Minuten abgelaufen, nur fünf auf Spasskis. Schmid bemerkte Bobbys finstere Miene. »Er sah aus wie der Tod«, sagte Schmid hinterher. Fischer war wütend, entrüstet und wild, geradezu wahnsinnig, entschlossen.
Als die Partie nach dem 41. Zug unterbrochen wurde, stand Fischer als Sieger praktisch fest. Im Hochgefühl des sicheren Sieges erklärte Bobby sich am nächsten Tag sogar damit einverstanden, auf der Bühne zu spielen. Bei Wiederaufnahme der Partie warf Spasski nur einen kurzen Blick auf den Abgabezug Fischers. Der genügte: Bobby würde in wenigen Zügen gewinnen, das stand fest. Spasski hielt seine Uhr an, als Zeichen seiner Aufgabe.
Als Fischer, wie immer zu spät, 15 Minuten nach Spielbeginn auf die Bühne eilte, war Spasski schon auf dem Weg zum Hotel. Atemlos fragte Fischer: »Was ist passiert?« Schmid antwortete: »Mr. Spasski hat aufgegeben.« Fischer unterschrieb daraufhin sein Partieformular und verließ die Bühne ohne ein weiteres Wort. Vor dem Künstlereingang warteten bereits die Gratulanten. Fischer konnte sich ein Lächeln nicht verbeißen.
Die Behauptung, allein anhand der ersten zwei gespielten Partien hätte sich schon der Ausgang des ganzen Wettkampfs vorhersagen lassen, mag abenteuerlich klingen, zumal beide Kontrahenten je einen Punkt machten. Doch völlig aus der Luft gegriffen ist sie nicht. Tatsache ist, dass Fischer mit seinem ersten Sieg gegen Spasski nicht nur dessen Vorsprung verkürzte. Vor allem erlangte er die Gewissheit, die er für sich selbst brauchte: dass er fähig war, diesen Gegner zu schlagen. Ein Remis hätte überhaupt nichts bedeutet. Dass er gegen Spasski remis spielen konnte, hatte Fischer schon bewiesen (wenn auch selten). Durch den Sieg hatte er seinem Kontrahenten jedoch nicht nur eine Wunde geschlagen, er hatte auch Blut geleckt.
Auch wenn Bobby in Reykjavik Kameras wie Windmühlen bekämpfte, kam sein epischer Kampf doch im Fernsehen. Shelby Lyman, ein 35-jähriger Soziologieprofessor, Schachmeister und ehemals einer der besten Spieler Amerikas, moderierte fast jeden Tag eine fünfstündige Sendung im öffentlichen Fernsehen. Er analysierte die Partien, Zug um Zug. Neuigkeiten und Hintergrundinformationen erhielt er per Telefon von einem Korrespondenten in Island. Er führte die Züge auf einem Demonstrationsbrett aus und versuchte, die Antworten des am Zug befindlichen Spielers vorherzusagen. Das Publikum durfte sich ebenfalls beteiligen und Züge vorschlagen. Oft kamen Großmeister als Studiogäste, diskutierten die Meriten der telefonisch vorgeschlagenen Züge und beurteilten die Gewinnchancen der beiden Kontrahenten.
Lyman war sehr beredt und auch für Laien gut verständlich. Seine Analysen erklärte er so, dass auch Schachnovizen sie verstanden. Beispielsweise sagte er einmal: »Damen muss man nicht nur abstrakt Respekt erweisen. Mann muss sich echt vor ihnen hüten.« Schon nach wenigen Tagen verfolgte mehr als eine Million Menschen die Sendungen, nach zwei Monaten war Lyman selbst ein Star, der auf der Straße angehalten und um Autogramme gebeten wurde. Die Sendung war derart beliebt, dass sie auf den Schirmen der New Yorker Sportbars die üblichen Baseball- und Tennismatches verdrängte. Als der Sender einmal wagte, live über die Wahl des demokratischen Präsidentschaftskandidaten zu berichten, riefen Tausende Zuschauer an und verlangten ihre gewohnte Schachsendung. Die Chefs des Senders beugten sich dem Publikumswunsch und ließen zur Schachweltmeisterschaft umschalten.
Fischers Leidenschaft und Charisma gaben dem
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