Endspiel - Genie und Wahnsinn im Leben der Schachlegende Bobby Fischer
er mache das absichtlich, um ihn zu nerven.
Dieses Verhalten irritierte Fischer zunehmend. Er beschwerte sich beim Schiedsrichter, doch was sollte der schon sagen? Manchmal stand Tal mitten in der Partie vom Brett auf und plauderte mit den anderen sowjetischen Spielern, während Fischer seinen nächsten Zug plante. Tal und die anderen flüsterten sich Analysen ihrer Stellungen zu. Bobby verstand ja ein wenig Russisch und hörte etwa die Worte für Dame und Springer, wusste aber nicht, ob Tal von seiner eigenen Partie sprach. Bobby war stinksauer; er verstand nicht, warum der Oberschiedsrichter dieses Getuschel nicht untersagte, schließlich verboten die Regeln es ausdrücklich. Er forderte von den Ausrichtern, Tal zu disqualifizieren. Damit biss er allerdings auf Granit – es hatte sich über Jahrzehnte eingebürgert, dass Sowjetspieler sich während ihrer Partien ungestraft miteinander unterhielten.
Fischer störte es auch, dass an anderen Brettern nach dem Ende von Partien die Kontrahenten den Spielverlauf besprachen, mitten auf der Bühne, nur wenige Meter von Bobby entfernt. Warum gingen sie dazu nicht in einen Analyseraum? Das Geflüster störte ihn in seiner Konzentration. Er beschwerte sich schriftlich beim Oberschiedsrichter darüber:
Bitte verbieten Sie, dass zwei Kontrahenten nach Beendigung ihrer Partie den Verlauf [auf der Bühne] analysieren, um eine Störung der anderen Spieler zu verhindern. Nach Ende einer Partie sollte der Schiedsrichter die Figuren sofort entfernen, um ein Nachtarocken zu verhindern. Wir schlagen vor, die Organisatoren sollten einen eigenen Raum für die Analyse nach den Partien zur Verfügung stellen. Dieser Raum muss außer Hörweite der noch spielenden Teilnehmer sein.
Robert J. Fischer, Internationaler Großmeister
Doch nichts geschah. Niemand schloss sich dem Protest an, denn fast alle machten sich eben jener Sünde schuldig, die Fischer anprangerte.
Wegen seiner häufigen Beschwerden begann man bald, Bobby »den quengeligen Amerikaner« zu nennen. Die anderen Spieler fanden sein ewiges Jammern widerlich, einen billigen Vorwand, um nach Niederlagen Turnierleitung und Gegnern die Schuld in die Schuhe zu schieben.
War Bobby zu dünnhäutig? Auf jeden Fall litt er an Geräuschüberempfindlichkeit, einer akuten Allergie gegen Krach und Hintergrundgeräusche. Offenkundig wusste Tal ganz genau, wie er Bobby zur Weißglut bringen konnte. Der Lette musterte Bobby von nah und fern und brach dann in Gelächter aus. Einmal deutete er im gemeinsamen Speisesaal auf Bobby und sagte laut: »Fischer! Kuckuck!« Bobby brach fast in Tränen aus. »Warum sagte Tal ›Kuckuck‹ zu mir?«, fragte er. Und zum ersten und vielleicht einzigen Mal während des Turniers versuchte Larsen, ihn zu trösten: »Lass dich nicht ärgern.« Er wies Bobby darauf hin, dass er sich ja rächen könne: am Brett. Später druckte eine örtliche Zeitung in Bled Karikaturen aller acht Spieler. Die Zeichnungen erschienen später auf einer Souvenirpostkarte. Bobby wirkte auf dem Porträt überaus ernst; mit abstehenden Ohren und offenem Mund sah er aus wie ein … nun ja, Kuckuck.
Und um keinen Zweifel aufkommen zu lassen, saß neben Bobbys Porträt ein kleiner Vogel am Brett. Ein Kuckuck.
Zuschauer, Spieler und Journalisten wunderten sich offen darüber, wie Bobby mitten unter dem Schuljahr zwei Monate (September und Oktober) für ein Turnier freinehmen konnte. Schließlich kam heraus: Er hatte die Schule abgebrochen. Reginas Herz blutete, als der 16-Jährige sich rundweg weigerte, weiter zum Unterricht zu gehen. Sie hoffte, sie könnte ihn hinterher, nach dem Turnier, wieder zum Schulbesuch überreden. Selbst die stellvertretende Rektorin seiner Schule, Grace Corey, schrieb ihm nach Jugoslawien. Sie teilte ihm mit, er habe in den Prüfungen hervorragend abgeschnitten, mit 90 Prozent in Spanisch und 97 Prozent in Geometrie. »Ein tolles Jahr«, lobte sie und gab ihrer Hoffnung Ausdruck, dass Bobby wiederkomme.
Gute Noten hin oder her, die sowjetische Schachpresse begann, Bobby als ungebildet und kulturlos zu verunglimpfen, und tatsächlich setzte sich diese Propaganda in den Köpfen fest – selbst im Westen. Sowjet-Spieler verhöhnten ihn: »Bobby, was hältst du von Dostojewski?«, fragte einer. »Bist du Bentham-Fan?«, der andere. »Würdest du gern Goethe treffen?« Ihnen war nicht klar, dass Bobby während seiner Highschoolzeit zum Privatvergnügen Literatur gelesen hatte. Er mochte George Orwell,
Weitere Kostenlose Bücher