Endspiel - Genie und Wahnsinn im Leben der Schachlegende Bobby Fischer
seiner Hütte oder weiter zum Swimmingpool schwang er den Schläger oft nach einem unsichtbaren Ball, genau wie er als Junge imaginäre Basebälle schlug, wenn er die Flatbush Avenue hinuntertollte. Bald befand er sich auch körperlich in blendender Form. Er schrieb seiner Mutter, er fühle sich wegen seines täglichen Trainings »echt gut«, sein ganzes Umfeld finde, er sehe fit aus.
Erst nach einigen Stunden Sport setzte er sich ans Schachbrett. Abends machte er sich in einem Zustand ruhiger Kontemplation an die gründliche Analyse von Spasskis Partien. Diese Analyse bis ins winzigste Detail zog sich oft bis in die frühen Morgenstunden. Dabei stützte er sich bei der Vorbereitung vornehmlich auf das »große rote Buch«, wie Journalisten es schnell getauft hatten: die Weltgeschichte des Schachs. Band 27 der exzellenten Reihe stellte 355 Partien Spasskis vor, anschaulich dargestellt mit einem Bild der Stellung alle fünf Züge. Bobby nahm das Buch überallhin mit und ließ es nie aus den Augen. Mit Bleistift machte er zahlreiche Anmerkungen: Er markierte schwache Züge mit einem Fragezeichen, gute mit einem Ausrufezeichen. Fast als wolle er einen Partytrick vorführen, bat er manchmal jemanden, eine beliebige Partie im Buch auszuwählen und nur zu verraten, wo und gegen wen sie stattgefunden hatte. Bobby ratterte dann die komplette Partie herunter, Zug um Zug. Er kannte alle 14 000 Züge auswendig!
In seinem Brief an Regina hatte Bobby geschrieben, er »bereite sich ein bisschen« auf die Begegnung vor. Dabei grübelte er bis zu zwölf Stunden täglich, sieben Tage die Woche darüber nach, welche Eröffnungen er gegen Spasski spielen oder vermeiden sollte und welche Art von Stellung Spasski wohl am unangenehmsten wäre. Er schöpfte Zuversicht, nachdem er Spasskis Partien beim gerade beendeten Aljechin-Gedächtnisturnier in Moskau nachgespielt hatte. Einem Interviewer verriet Bobby: »Er spielte schrecklich. Bei dem Turnier kam er in der Hälfte aller Partien total ins Schwimmen.«
Während Spasski von einer kleinen Armee von Helfern unterstützt wurde, mühte Fischer sich mehr oder weniger allein ab. Ein britischer Spieler, Robert Wade, erstellte für Bobby eine detaillierte Analyse von Spasskis Eröffnungen. Die zwei Papierstapel trugen die Überschriften »Spasski: Weiß« und »Spasski: Schwarz«. Davon abgesehen, verließ sich Bobby ganz auf sich selbst. Der Presse gegenüber gab er sich zuversichtlich. »Ich mache mir keine Sorgen«, erklärte er. Dann diktierte er den Journalisten ein Zitat im Stil Muhammad Alis in den Block: »Die Wettquote [dafür, dass ich verliere,] sollte bei 20 zu 1 liegen.«
Gelegentlich kamen andere Schachspieler in Grossinger’s vorbei und trafen sich mit Bobby. Doch obwohl man sich aus gegebenem Anlass vornehmlich über Schach unterhielt, trugen diese Gespräche praktisch nichts zu Bobbys Vorbereitung bei. Auch Larry Evans und später Bernard Zuckerman schauten vorbei und versuchten, sich nützlich zu machen. Obwohl Bobby sie respektierte, bat er sie manchmal, sich vom Brett wegzusetzen, damit er die Dinge selbst durchdenken könne.
Lombardy versuchte später, die Vorstellung von Fischer als völlig selbstgenügsamem Spieler, als einsame Insel zurechtzurücken. »Es stimmt, er arbeitet allein, aber er lernt unablässig aus den Partien anderer Spieler«, sagte er. »Bobby Fischer hat sein Talent ebenso wenig allein entwickelt, wie es in der Musik keinen Beethoven oder Mozart ohne ihre Vorgänger gegeben hätte. Ohne seine Vorgänger und Zeitgenossen im Schach gäbe es keinen Bobby Fischer.«
Da Bobbys Suite zwei Schlafzimmer hatte, lud er gelegentlich Gäste ein. Am häufigsten kam Jackie Beers. Die beiden kannten sich seit Kindertagen und gaben ein seltsames Paar ab. Jackie war ein hervorragender Blitzschachspieler, bekam in Schachclubs aber oft Ärger, vor allem wegen seines aufbrausenden Temperaments. Einmal krachte es im Schachclub Manhattan so sehr, dass ihn sein Kontrahent hinterher verklagte. (Man einigte sich schließlich außergerichtlich.) Doch Bobby gegenüber verhielt Jackie sich sanftmütig und respektvoll. Jackie übernachtete häufiger bei Bobby: in dessen Brooklyner Wohnung, dann in Grossinger’s, später in Kalifornien, als Bobby dort wohnte. Jackie war aber nie der Speichellecker oder Prügelknabe, als den ihn die Literatur gelegentlich darstellte. Er akzeptierte Bobby als den »Chef« ihrer Freundschaft, gab ihm jedoch durchaus Kontra. Bobby kannte Jackies
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