Endstadium
Frankfurt bekommen. Von dort geht es sofort mit dem Zug weiter.«
Sie gingen den Zeitplan durch. Wenn alles klappte, würde Frau Schürmann mit dem Umschlag am frühen Nachmittag in Dortmund sein. Es würde ein Wettlauf mit der Zeit werden.
Herr Schürmann war ungewohnt aufgeregt. Er vollzog den Plan Schritt für Schritt nach. Heute Abend trank er kein Bier. Er wollte seine Frau im nüchternen Zustand zum Flughafen bringen.
29
Der nächste Vormittag verlief ruhig. Stephan erkundigte sich telefonisch bei Julita Rosell, wie es ihrem Mann gehe. Sie klang matt und ein wenig gereizt. Wie es einem Menschen gehen solle, der im Sterben liege, fragte sie. Sie habe sich nach einem Geistlichen erkundigt, der die Gemeinde Maspalomas betreue. Er spreche Deutsch und werde im Laufe des Tages vorbeikommen.
»Am Ende klammern sich alle an Gott«, sagte sie. »Sind Sie gläubig, Herr Knobel?«
»Nicht richtig«, bekannte er und war von der Frage überrascht. »Man hofft immer, dass irgendetwas nach dem Tod kommt, weil man nicht wahrhaben will, dass das Leben für alle Ewigkeit vorbei ist. Vielleicht glaubt man deshalb daran, dass es weitergeht. - Ich bin da wahrscheinlich nicht anders«, erklärte er, als müsse er sich verteidigen.
»Wir Menschen sind so, dass es immer irgendwie weitergeht«, sinnierte sie. »Gott füllt das Nichts, das wir nicht denken können.«
»Ich würde Ihren Mann gern noch einmal besuchen«, sagte Stephan. »Ich möchte mich von ihm verabschieden.«
»Das ist sehr fein von Ihnen, Herr Knobel«, antwortete sie. »Aber ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist. Es geht ihm sehr schlecht. Ich glaube, er will, dass es nur noch schnell vorbei ist. Das Leben hat keinerlei Wert mehr für ihn. Ich verstehe ihn. Wenn es einen Gott gibt, dann wird Justus ihn bald vor sich haben, Herr Knobel. – Bitte, ich denke, es ist nicht gut, wenn Sie kommen. Können Sie das verstehen, Herr Knobel?«
»Ja, natürlich.«
Ihm fielen keine weiteren Worte ein.
Dann informierte er Schürmann über das Telefonat mit Julita Rosell.
»Es sieht danach aus, dass wir verlieren«, sagte Stephan.
»Sie machen mich nervös«, erwiderte Schürmann.
30
Gegen 16 Uhr erhielt Stephan die zweite SMS von Schürmann. In der ersten hatte er mitgeteilt, dass seine Frau pünktlich in Frankfurt angekommen sei. Die zweite enthielt die Nachricht, dass sie es geschafft habe, den Umschlag in Dortmund abzugeben.
›Die Sache läuft. Lebt Rosell noch? Gruß Schürmann‹, endete der Kurztext.
Die Zeit verging quälend.
Marie und Stephan blieben in der Hotelanlage und suchten einen ruhigen Platz an einem kleinen Pool unterhalb der Plaza. Kinder waren hier nicht zu finden; sie planschten lieber in dem großen Becken am unteren Ende des Areals. Hier oben befanden sich mehrheitlich ältere Hotelgäste, die sich in erster Linie sonnten, in Büchern und Zeitschriften lasen und nur gelegentlich für einige Minuten ins Wasser gingen. Etwas abseits saß eine ältere Frau in einem Rollstuhl, an den ein medizinisches Versorgungsgerät angeschraubt war, von dem ein Schlauch in ihre Nase führte. Die Frau hatte einen hübschen Badeanzug angezogen und ihre Haare sorgfältig frisiert. Ihr Mann richtete im Verlauf der Stunden den Sonnenschirm und den Standort des Rollstuhls immer wieder neu aus, sodass sie gut beschattet blieb, streichelte sie, brachte Getränke, unterhielt sich mit ihr und wich nicht von ihrer Seite. Er trug einen großen Strohhut und hatte wache, freundliche Augen. Er tat alles für seine Frau. Marie spürte, dass es die letzte gemeinsame Reise dieses Paares sein würde. Nie zuvor war ihr die Endlichkeit des Lebens so bildhaft bewusst geworden. Das Kreischen der Kinder an den anderen Pools war nur gedämpft zu hören. Das Hotel suggerierte baulich ein über die Zeit gewachsenes Dorf. Es war eine schöne Fassade. In diesem Dorf vollzogen sich Lust und Leid wie im wirklichen Leben. Die Frau im Rollstuhl trug große goldene Ohrringe. Sie wollte leben, richtig leben, bis zum Schluss. Marie und Stephan beobachteten beschämt die Frau.
Er rief Julita Rosell an. Es gebe nichts Neues, sagte sie und kam Stephans banger Frage zuvor: »Bitte kommen Sie nicht! – Es kann jederzeit zu Ende sein.«
Stephan informierte Schürmann über den Sachstand.
31
Die verheerende Nachricht erreichte Stephan am übernächsten Morgen. Es war kurz vor acht. Er lag noch mit Marie im Bett.
»Er ist letzte
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