Endstation Färöer
die Ferne. Dennoch ging er die Zeitungen holen.
Ich war der einzige Besucher in der größten Bibliothek des Landes. Ich würde also keine Probleme haben, mir einen Tisch zu suchen und ein paar Stunden zu lesen, bis ich zu Karl und Katrin zum Essen gehen wollte.
Als der Bibliothekar zurückkam, hatte ich die Idee, ihn nach Material über Kesselring und ODESSA zu fragen.
»Ja, ja, das ist nicht ganz einfach«, kam es brummend von ihm. »Wir können natürlich Bücher aus der Staatsbibliothek in Århus bestellen, aber wenn Sie sie jetzt brauchen, dann gibt’s da nicht so viel.«
Ich erwiderte, dass ich das Material jetzt bräuchte.
»Wir haben vereinzelt etwas an verschiedenen Stellen. In Übersichtswerken und so. Während sie die Zeitungen durchschauen, kann ich mal suchen. Ich glaube, das eine oder andere fällt mir schon ein.«
Er spitzte die Lippen und sog die Luft ein. Dann stieß er sie mit einem verhaltenen Pfeifen wieder aus.
Während ich dasaß und die Zeitungen durchblätterte, die gleichen, die ich bereits beim Bladet gelesen hatte, kam der graubärtige Bibliothekar mehrere Male leise heran und legte ein Buch nach dem anderen auf die Ecke des Tisches. Eine Viertelstunde später stapelten sie sich einen halben Meter hoch und der Bibliothekar blieb an meinem Tisch stehen, nach innen und außen flötend.
Ich sah von den Zeitungen auf. Sein ganzes Verhalten drückte feierlichen Ernst aus, er ähnelte einem selbstbewussten Oberkellner. Abgesehen von der zerknitterten Jacke und den beutelnden Hosen.
»Das ist alles, was mir im Moment einfällt. Es ist auch ein Buch über Hitler dabei. Wenn Sie mich brauchen, ich sitze hinten am Tresen. Wir schließen um sieben Uhr.«
Er ging.
Ich holte meinen Füller heraus, nahm ein Blatt von dem Papier, das auf dem Tisch lag, und begann zu schreiben.
Über Kesselring und die Kämpfe in Italien stand da nur das Wenige, was ich schon vorher gelesen hatte, und Sonjas Artikel waren so allgemein gehalten, dass nicht viel aus ihnen herauskam. Aber hier gab es noch anderes Material. Es war erschreckend faszinierend, über den Sonderling Adolf Hitler zu lesen, der in Deutschland an die Macht kam und die Welt auf dem Wege zur Götterdämmerung führte, weil alle Zufälligkeiten dieser Welt zusammentrafen. Adolf Hitler wuchs in guten Verhältnissen auf, aber alles, was er anfasste, misslang, und später log er hinsichtlich seiner Herkunft. Er stellte sich als ein Beispiel dafür dar, wie ein armer Junge sich allein mithilfe von Scharfsicht und einem starken Willen bis zum Reichsführer emporkämpfen konnte. Seine Vergangenheit war Tabu, er wollte sie sich selbst erschaffen. Die Freunde, die er gehabt hatte, ließ er umbringen. Von Beginn an hasste er die Juden. Es gab viele, die das auch taten, aber Hitler hasste sie mehr als die meisten. Vielleicht war der Grund, dass Hitlers Großvater möglicherweise ein jüdischer Kaufmann gewesen war, bei dem seine Großmutter im Dienst gestanden hatte.
Der Antisemitismus war Hitlers Antriebskraft. Hier gab es keine Diskussionen und hier wurde nicht ›geschummelt‹ wie auf anderen Gebieten. Die Juden und das Judentum waren die Ursache für alles Böse auf dieser Welt. Die Juden waren ebenso schuld daran, dass Deutschland 1918 den Krieg verlor, wie an dem Frieden von Versailles, der das Land kaputtmachte. Die nationalsozialistische Propaganda wiederholte immer wieder, dass die Juden die gefährlichsten Feinde des deutschen Reiches seien. Es wurde alles getan, um den Juden zu schaden, Nachsicht gab es nicht. Die SA verprügelte und verstümmelte Juden am helllichten Tage, Schaufenster wurden zerschlagen und Waren zerstört. Die Polizei tat nichts. Das Gesetz verbot Nichtariern öffentliche Ämter und jüdische Ärzte bekamen kein Geld von der Krankenkasse. Lehrer und Studenten wurden haufenweise aus den Universitäten und anderen Lehranstalten geworfen. Die Verfolgung erreichte ihren Höhepunkt in der so genannten ›Reichskristallnacht‹ am 9. November 1938, die ihren Namen dem vielen Glas verdankte, das auf den Bürgersteigen lag. Man tat alles, um die Juden zu schädigen, und dann … die ›Endlösung‹.
Die Lektüre war verführerisch, machte mich aber unruhig. Auf dem Tisch stand ein Aschenbecher, also steckte ich mir eine Zigarette an, aber bereits der erste Zug brannte wie nichts Gutes im Hals.
Ich drückte sie sofort wieder aus und dachte, dass ich einen kleinen Vorgeschmack davon bekommen hatte, wie es anderen ergangen
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