Endstation für neun
Dachte Martin Beck.
»Woran denkst du, Papa?«, fragte Ingrid. »An nichts«, sagte er automatisch.
»Ich habe dich seit dem Frühjahr nicht mehr lachen sehen.« Martin Beck hob den Blick von den Weihnachtsmännern, die auf der Wachstuchdecke tanzten, sah seine Tochter an und versuchte zu lächeln. Ingrid war ein prächtiges Mädchen, aber das war eigentlich auch kein Grund zum Lachen. Sie stand auf und ging hinaus, um ihre Schulbücher zu holen. Als er Hut, Mantel und Überschuhe angezogen hatte, stand sie schon mit der Hand an der Türklinke und wartete auf ihn. Er nahm ihr die libanesische Ledertasche ab. Sie war alt und abgewetzt und mit bunten FNL-Stickern vollgekleistert.
Auch das war Routine. Er hatte Ingrids Tasche vor neun Jahren an ihrem ersten Schultag getragen und tat es noch immer. Damals hatte er ihre Hand gehalten. Eine sehr kleine Hand, die warm und schwitzig gewesen war und vor Aufregung und Erwartung gezittert hatte. Wann hatten sie aufgehört, Hand in Hand zu gehen? Er erinnerte sich nicht.
»Heiligabend wirst du jedenfalls lachen«, sagte sie. »Tatsächlich?«
»Ja. Wenn du mein Weihnachtsgeschenk bekommst.« Sie runzelte die Augenbrauen und fügte hinzu: »Alles andere ist völlig undenkbar.«
»Übrigens, was wünschst du dir eigentlich?«
»Ein Pferd.«
»Ach, und wo willst du es unterstellen?«
»Das weiß ich nicht. Ich möchte jedenfalls eins haben.«
»Weißt du, was ein Pferd kostet?«
»Ja, leider.«
Sie trennten sich.
In der Kungsholmsgatan warteten Gunvald Larsson und ein Ermittlungsbericht auf ihn, der nicht einmal mehr die Bezeich nung Ratespiel rechtfertigte, worauf Hammar freundlicherweise noch am Vortag hingewiesen hatte.
»Was ist mit Türe Assarssons Alibi?«, erkundigte sich Gunvald Larsson.
»Türe Assarssons Alibi gehört zu den hieb und stichfestesten der Kriminalgeschichte«, antwortete Martin Beck. »Erstens, weil er zum fraglichen Zeitpunkt eine Rede bei einem Bankett für fünfundzwanzig Personen hielt. Zweitens, weil er sich dabei im Stadthotel von Södertälje befand.«
»Aha«, sagte Gunvald Larsson finster.
»Außerdem erscheint es mir, mit Verlaub gesagt, nicht sonderlich logisch, anzunehmen, dass Gösta Assarsson nicht merken würde, wenn sein eigener Bruder mit einer Maschinenpistole unter dem Mantel in den Bus steigt.«
»Der Mantel, ja«, sagte Gunvald Larsson. »Der muss ziemlich weit gewesen sein, wenn er eine M 37 darunter verstecken konnte. Es sei denn, er trug sie in einer Tasche.«
»Da hast du recht«, sagte Martin Beck. »Es soll vorkommen, dass ich auch mal recht habe.«
»Zum Glück«, erwiderte Martin Beck. »Wenn du dich vorgestern Abend geirrt hättest, stünden wir jetzt ganz schön bescheuert da.« Er zeigte mit seiner Zigarette in der Hand auf ihn und sagte:
»Eines Tages fällst du auf die Schnauze, Gunvald.«
»Das glaube ich nicht«, sagte Gunvald Larsson und trampelte aus dem Raum. In der Tür begegnete er Kollberg, der schnell einen Schritt zur Seite machte, dem breiten Rücken hinterherschaute und fragte:
»Was ist denn mit dem lebenden Rammbock los? Sauer?« Martin Beck nickte. Kollberg ging zum Fenster und sah hinaus.
»Was für ein Sauwetter«, sagte er.
»Wohnt Asa noch bei euch?«
»Ja«, sagte Kollberg. »Und sag jetzt nicht: (Hast du dir einen Harem zugelegt?) Denn das hat mich schon Herr Larsson gefragt.«
Martin Beck nieste.
»Gesundheit«, sagte Kollberg. »Fehlte nicht viel, und ich hätte ihn aus dem Fenster geworfen.«
Kollberg war wahrscheinlich einer der wenigen, die das auch tatsächlich schaffen könnten, dachte Martin Beck. »Danke«, sagte er. »Wofür bedankst du dich?«
»Dafür, dass du Gesundheit gesagt hast.«
»Ach so. Es gibt nicht viele, die so viel Anstand haben, danke zu sagen. Ich erinnere mich da an einen Fall. Ein Pressefotograf, der seine Frau grün und blau geschlagen und anschließend nackt in den Schnee geworfen hat, weil sie sich nicht bedankte, nachdem er Gesundheit gesagt hatte. An Silvester. Er war natürlich voll.«
Er schwieg eine Weile, dann sagte er nachdenklich:
»Man bekommt wohl nicht mehr aus ihr heraus. Aus Asa, meine ich.«
»Nun, immerhin wissen wir jetzt, woran Stenström gearbeitet hat«, sagte Martin Beck.
Kollberg sah ihn verblüfft an. »Wissen wir das?«
»Ja, natürlich. Am Teresa-Mord. Das ist so klar wie Kloßbrühe.«
»Am Teresa-Mord?«
»Ja. Hast du das nicht kapiert?«
»Nein«, antwortete Kollberg. »Das habe ich nicht kapiert. Dabei bin
Weitere Kostenlose Bücher