Endstation Kabul
ISAF war zu diesem Zeitpunkt nämlich noch nicht besonders weit fortgeschritten.
Kurz vor Bagram kamen wir dann in eine bewohnte Gegend. Es gab dort viele flache Gebäude, auf deren Dächern wir Flugabwehrkanonen und unzählige Bewaffnete neben der Straße entdeckten. Uns fiel sofort auf, dass diese Menschen hier feindselig auf uns reagierten. Aus Kabul waren wir dies nicht gewohnt, dort kamen wir einigermaßen mit der Bevölkerung zurecht, hier aber schlugen uns eisige Kälte, Misstrauen und offenkundige Ablehnung entgegen. Vielleicht hatte es ja damit zu tun, dass die Amerikaner hier stationiert waren. Mir war schon aufgefallen, wie unterschiedlich die beteiligten ISAF-Nationen mit der Bevölkerung umgingen. Die Zivilbevölkerung trat uns in den verschiedenen Sektoren Kabuls ganz unterschiedlich gegenüber. Das ISAF-Kontingent in Kabul war auf drei multinationale Brigaden, also »KMNBs«, mit damals über 20000 Soldaten aufgeteilt, die an drei Standorten innerhalb der Stadt von unterschiedlichen Nationen geführt wurden. Wo die Briten und Franzosen das Sagen hatten, traten uns die Bewohner irgendwie verschlossener, ja beinahe reserviert gegenüber.
Wir hatten genug gesehen. Nun, vor den Toren des möglicherweise rettenden Flughafens in Bagram, konnte ich mit Gewissheit sagen, dass wir keine Chance hatten. In einem bewaffneten Konflikt mit 2300 bis 2500 deutschen Soldaten über die Route Bottle nach Bagram zu gelangen, war ausgeschlossen. Selbst mit massiver Unterstützung der Amerikaner aus der Luft wäre dies mehr als fraglich gewesen. Abgesehen davon konnte ich mir nicht vorstellen, dass die Amerikaner überhaupt ISAF-Partner unterstützt hätten, solange auch nur ein eigener Soldat von ihnen noch zu evakuieren gewesen oder in Gefechte verwickelt wäre. Ist ja klar, dass die eigenen Kräfte immer vorgehen. Außerdem ging es ja nicht darum, nur ein paar Soldaten oder eine Kompanie zu evakuieren. Es ging um knapp 21000 Soldatinnen und Soldaten aus mehreren Nationen, die in der Mausefalle sitzen würden.
Meines Wissens sind die Evakuierungsmöglichkeiten bis heute ähnlich miserabel. Wenn ich die Berichterstattung im Fernsehen verfolge, dann frage ich mich, warum sich nicht Journalisten oder die vielen selbsternannten Militärexperten des Themas annehmen. Stattdessen lassen sie sich von den Presseoffizieren mit Allgemeinplätzen abspeisen, dass man zuversichtlich hinsichtlich einer Evakuierung sei. Selten so gelacht, kann ich dazu nur sagen. Wie bitte soll das gehen? Wie soll man mittlerweile etwa 3000 deutsche Soldaten, verteilt auf inzwischen vier Stützpunkte, aus diesem Land retten? Und das, wenn zurzeit lediglich sechs Hubschrauber zur Verfügung stehen, die aufgrund der technischen Grenzen nicht über alle Berge kommen. Die Besatzung eines Hubschraubers besteht aus vier Mann (zwei Piloten, ein Bordmechaniker und ein Luftraumspäher), im Bedrohungsfall kommen noch zwei MG-Schützen dazu. Demnach konnte jeder Hubschrauber im Evakuierungsfall maximal zehn zusätzliche Personen aufnehmen.
Die deutsche Politik, das Verteidigungsministerium macht einen großen Fehler, wenn sie leichtfertig ihre Soldaten einer solchen Bedrohung aussetzt. Vielleicht hätten die Herren mal ins Geschichtsbuch schauen sollen. Dann wäre ihnen der Leidensweg der Briten eine Warnung gewesen. 1842 floh die einstmals stolze Kolonialarmee vor den afghanischen Stammeskriegern von Kabul nach Pakistan. 16000 Mann, zum Teil mit Angehörigen, versuchten, mit den afghanischen Kämpfern im Nacken über die Grenze zu kommen. Nur ein einziger Mann erreichte Pakistan lebend. Mehr tot als lebendig berichtete der Militärarzt William Brydon von unvorstellbaren Massakern an den Soldaten und Zivilisten. Nicht ohne Grund sprachen wir in der Truppe immer vom »Kessel Kabul«. Wir wussten, dass wir keine Chance hätten, wenn die instabile Sicherheitslage in einen bewaffneten Konflikt umschlüge. Und wir wussten, dass die Situation dem Bundestagsmandat der Bundeswehr in diesem Land widersprach. Unser militärischer Auftrag bestand nämlich eindeutig auch gerade darin, uns selbst im Bedarfsfall evakuieren zu können, wie auch die »Bundesdrucksache 14/7930« unmissverständlich festlegt.
Eine sichere Evakuierung war absolut unmöglich, weil uns dafür die Mittel und Wege fehlten. Wir fühlten uns von der Politik, die ja den finanziellen Rahmen für die Bundeswehr vorgibt, im Stich gelassen. Da schickte sie uns nach Afghanistan und wollte die immensen
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