Endstation Kabul
Ich nutzte die Zeit und vertiefte mich auf meinem Feldbett in die Unterlagen. Anhand der Karte lernte ich den geplanten Weg nach Bagram auswendig, um in Notfällen schnell reagieren zu können. Ich überprüfte anschließend meine Ausrüstung, vor allem meine Waffen und die Munition. Aber auch Verpflegung und Wasser, es musste für mindestens zwei Tage ausreichen. Wichtig waren auch die Batterien. Man glaubt kaum, wie hoch heutzutage der Stromverbrauch eines Soldaten ist: Funk, Navigationsgeräte, Laserzielgeräte, man schleppt Unmengen von Batterien mit sich herum. Spät am Abend fiel ich in einen unruhigen Schlaf. Ich wachte ständig auf und überlegte, ob ich irgendwas vergessen hatte. Gedanklich war ich bereits voll in der kommenden Operation und ging sie Punkt für Punkt durch, drückte alle Informationen in mein Unterbewusstsein, damit ich mich im Gefahrenfall richtig verhielt.
Früh am Morgen starteten wir mit unserem Trupp aus acht Personen in Richtung Bagram. Schon nach wenigen Minuten erreichten wir die »Route Bottle«, die Verbindungsstraße zwischen Bagram und Kabul, und begannen mit der Dokumentation. Den wichtigsten Straßen in und um Kabul war von der ISAF-Führung entweder eine Farbcodierung oder ein kurzer, einprägsamer Name zugewiesen worden, um angesichts der Sprachbarrieren die Orientierung zu erleichtern. In der Gruppe wurde es immer stiller. Bald wurde klar, dass dieser Auftrag zum Scheitern verurteilt war. Östlich der Straße stieg das Gelände relativ schnell immer steiler an, bis auf etwa 3500 Meter Höhe. Das zunächst flache Land im Westen war durchzogen von Wadis, ehemaligen Bachbetten. Im Sommer, bei der Schmelze der Gletscher, rauscht das Wasser mit extrem hohen Geschwindigkeiten zu Tal und wäscht die Betten der meistens nur friedlich dahinplätschernden oder sogar versiegten Bäche tief aus. So tief, dass sich ganze Truppen in diesen Wadis verstecken können. Hatten sie auch, wir fanden in diesen natürlichen Gräben unvorstellbar viele Panzerfahrzeuge. Dahinter begann eine Bergkette, die auf Höhen von etwa 2000 Meter anstieg.
Auf einer dieser Höhen entdeckten wir ein sehr stabiles Gebäude mit einer großen Antenne darauf. Je näher wir kamen, umso deutlicher konnten wir erkennen, dass es sich um eine Bunkeranlage handelte. Als wir nur noch wenige Hundert Meter entfernt waren, kamen zwei bewaffnete Afghanen auf uns zu und machten uns unmissverständlich klar, dass wir nicht näher kommen sollten. Links vom Bunker sahen wir ein überschweres Maschinengewehr, das aber nicht besetzt war. Nach dem Austausch von Zigaretten, einer international anerkannten Währung, gewährten uns die Afghanen schließlich doch Zugang zu dieser Anlage. Im Gebäude fanden wir ein Funkgerät, und beim Blick aus dem Fenster wurde uns auch klar, was es von hier aus zu kommunizieren gab: Uns bot sich ein wunderbarer Ausblick auf die Route Bottle und den Flughafen Kabuls – ein idealer Beobachtungspunkt also. Im weiteren Verlauf der Straße stießen die beiden Bergketten rechts und links bis an die Straße heran. Wenn sich nur ein oder zwei Panzer, von diesem Observationsposten alarmiert, dort aufbauen würden, wäre der Weg nach Bagram abgeschnitten. Die Option einer Überlandevakuierung war damit schon mal abgehakt.
Als wir weiterfuhren, sahen wir bereits nach etwa zehn Kilometern zwei T-55-Panzer an einem solchen Nadelöhr. Wir konnten nicht erkennen, ob die beiden Panzer in Betrieb oder funktionsfähig waren, aber es gab Bewegung neben den Fahrzeugen. Unsere Stimmung sank tiefer und tiefer. Wir waren keine 20 Kilometer weit gekommen und hatten schon eine Menge Entmutigendes gesehen. Dazu gehörten auch fantastische Möglichkeiten, einen Hinterhalt für uns zu legen. Die vielen Höhleneingänge in den Bergen im Westen und Osten waren dazu ideal. Doch das Schlimmste waren die roten Farbmarkierungen rechts und links der Straße: Minen! Diese kleinen roten Kreuze am Wegrand zogen sich bis unmittelbar vor Bagram hin. Es gäbe für uns keine Möglichkeit, überhaupt von der Straße runterzugehen, um woanders eine Stellung zu beziehen. Insgesamt kamen wir an sechs Checkpoints der Afghanen vorbei. Wir fragten die mit schweren Maschinengewehren ausgerüsteten Männer, in wessen Auftrag sie dort standen. Ob sie tatsächlich zur afghanischen Armee gehörten, wie sie behaupteten, kann ich nicht sagen. Wir waren diesbezüglich eher skeptisch. Die Aufstellung, Ausbildung und auch Ausrüstung dieser Armee durch die
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