Endstation Kabul
dass wir unseren Auftrag konsequent und unter hohem persönlichem Risiko ausführten?
Ich entgegnete dem Oberst nicht, dass ich den »Rules of Engagement« zufolge in so einer Lage sofort meine Schusswaffe hätte einsetzen können und dürfen. Ich hielt einfach den Mund, um diese Situation nicht auch noch eskalieren zu lassen. Natürlich auch, weil ich gegen den Oberst garantiert den Kürzeren gezogen hätte. So ließ ich den Sermon über mich ergehen – von jemandem, der vor noch nicht einmal 24 Stunden in dieses Krisengebiet eingeflogen worden war. Ich hatte schon öfter die Erfahrung gemacht, dass gerade in der hohen und höchsten Führungsebene ein ausgeprägtes Gutmenschendenken zu finden war. Eine Einstellung, die vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte durchaus nachvollziehbar, hier aber einfach fehl am Platze und sogar höchst gefährlich war. In diesem Land ließ sich eben nicht alles mit gesundem Menschenverstand und Appellen an die Vernunft regeln. Hier liefen die Uhren ein bisschen anders.
Von Kameraden wusste ich, dass es seit Einsatzbeginn immer wieder zu Problemen wegen unterschiedlicher Einschätzungen gekommen war. Der Bundeswehrführung musste an einem guten Image in der Bevölkerung gelegen sein. Und das drohte schon mal auf Kosten der Sicherheit ihrer Soldaten zu gehen. Ein General der ersten Kräfte wollte beispielsweise verbieten, dass die minengeschützten Fahrzeuge, die sogenannten Dingos, mit aufgerüstetem Maschinengewehr benutzt werden, weil das von den Afghanen als aggressive Geste aufgefasst werden könnte. Und das, obwohl historisch und kulturell bedingt Waffen im Alltag der Afghanen das Normalste auf der Welt sind und nicht wenige mit Revolver oder Gewehr durch die Gegend laufen. Ich hatte die Erfahrung gemacht, dass man sich mit einer angemessenen Ausrüstung gegenüber den Afghanen den nötigen Respekt verschaffte. Auch wenn man das Maschinengewehr, das vom Fond des Dingo aus bedient wird, gar nicht einsetzen will, sollte man es gerade in schlecht einschätzbaren Situationen immer installieren. Es eignet sich nämlich hervorragend dafür, den Feind in Deckung zu zwingen, also niederzuhalten, während der Konvoi sich aus der unmittelbaren Gefahr herausbegibt.
Ich stellte also auf »Durchzug« und wartete stoisch ab. Auch Alex sah aus, als wollte er sich diesen Schwachsinn nicht länger anhören. Vermutlich hatte er auch schon eine Kosten-Nutzen-Rechnung aufgestellt, und da sie negativ ausfiel, mischte er sich nicht ein. Selbst der Major versuchte, den Oberst zu beruhigen. Ich war nach diesem Zwischenspiel einfach nur enttäuscht. Ich hatte meinen Auftrag erledigt, professionell und mit der geringsten Eskalationsstufe, und wurde von meiner Schutzperson als hirnloser Rambo hingestellt! Noch als wir zurück im Camp Warehouse waren und ich mich um die Nachbereitung kümmerte, arbeitete es in mir, und ich fragte mich ernsthaft, welchen Fehler ich denn begangen hatte. Ich reinigte meine Waffe und kam für mich zu dem Ergebnis: keinen!
Wie oft ich diese vollkommen mechanisch ausgeführten Tätigkeiten wie Waffe reinigen und Ausrüstung überprüfen in meiner Zeit beim Militär durchgeführt habe, kann ich beim besten Willlen nicht mehr sagen. Allerdings sind mir diese Tätigkeiten zu meiner zweiten Natur geworden, bis heute und sogar im Zivilleben. Selbst bei kleinen Gängen vor die Tür überprüfe ich meine »Ausrüstung« und vergewissere mich lieber zweimal, ob ich alles, was ich brauche, dabeihabe. Diese Routinen kann man einfach nicht mehr ablegen. Besonders, wenn man sie unter so speziellen Begleitumständen wie in Afghanistan verinnerlicht hat, wo diese Prozesse ja eine Art Lebensversicherung sind. Mir ist zum Beispiel bis heute zuwider, über offene Rasenflächen zu laufen, wegen der Minengefahr. Rasen und Minen – die beiden Dinge scheinen unwiderruflich und untrennbar in meinem Kopf zusammen abgespeichert zu sein. Niemand von meinen Verwandten, Freunden oder Bekannten, die nicht in ähnlichen Situationen waren, versteht, warum ich noch heute ungern über eine Wiese gehe. Ich habe von vielen anderen gehört, dass sie aus Einsätzen solche Macken mitgebracht haben. Ein Soldat hat sich, wenn er nachts zu Hause in seiner Privatwohnung auf Toilette musste, automatisch erst mal komplett angezogen – weil er das von Camp Warehouse so gewohnt war. Er hätte ja schlecht in Unterhose aus seinem Zelt krabbeln und durch die eiskalte Nacht zu den Sanitäreinrichtungen marschieren
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