Endstation Kabul
Führer war bereits vor Ort, um sich von seinem Vorgänger über das Land, die Stadt und die Gepflogenheiten unterrichten zu lassen. Der Neue, Captain Hemskerk, kam ursprünglich aus der Laufbahngruppe der Unteroffiziere. Er hatte schon zehn Jahre als Sergeant in der niederländischen Armee auf dem Buckel, bevor er zum Offizier befördert worden war. Er hatte also sehr viel Berufserfahrung. Wir verstanden uns auf Anhieb gut, und zwischen uns entwickelte sich eine bis heute haltende Freundschaft. Auch er war etwas erstaunt, einen deutschen Fallschirmjäger in sein Team zu bekommen, sah aber in erster Linie die Vorteile, da ich bereits seit über drei Monaten im Land war. Sein erster Eindruck von mir war also mehr als positiv, was mich sehr freute. In den nächsten Tagen fuhren wir sehr viele Patrouillen in Kabul und Umgebung, um ihm ein Gefühl für die Stadt und die Menschen zu vermitteln. Auch abends saßen wir häufiger zusammen. Neugierig saugte er jede Information auf.
Bevor das »alte« Team das Einsatzland verließ, hatten wir noch einen letzten Auftrag gemeinsam zu bestehen. Im Bereich des Interconti kam es in letzter Zeit immer wieder zu Demonstrationen für oder gegen die neu gebildete Regierung. Bei diesen Demos war ein aggressives Potential erkannt worden, das wir weiter im Auge behalten sollten. Da ich mich am Interconti sehr gut auskannte, errichteten wir Tages-Beobachtungspunkte, um das Treiben überblicken und schnell eingreifen zu können, falls die Lage eskalieren sollte. Wir alle waren bestürzt, dass es so kurz nach der Loya Jirga zu solchen Ausschreitungen kommen konnte. Kaum war die Regierung gewählt, wurde gegen sie protestiert. Ein weiterer Faktor heizte die Atmosphäre an: Im September würde eine unruhige Zeit beginnen, die »Massud-Tage« genannt wurde.
Ahmed Schah Massud war einer der bekanntesten Mudjaheddin-Kämpfer im Land. Er hatte nicht nur Widerstand gegen die Russen geleistet, sondern als Führungsperson der Nordallianz auch gegen die Taliban gekämpft. Zwei Tage vor dem Anschlag auf das World Trade Center, am 9. September 2001, war er von mutmaßlichen Al-Qaida-Kämpfern ermordet worden. Massud wird im ganzen Land wie ein Heiliger verehrt, und rund um seinen ersten Todestag herum war mit vielen Veranstaltungen zu seinen Ehren zu rechnen. Der Personenkult geht so weit, dass fast überall in Kabul Massuds Konterfei zu sehen war und noch heute ist, auf teilweise gigantisch großen Bildern und Plakaten. Viele Afghanen hätten diesen charismatischen Mann viel lieber als Interimspräsidenten gesehen als den von amerikanischen Gnaden eingesetzten. Auch viele der Demonstranten am Interconti hielten Bilder dieses Mannes hoch und demonstrierten gegen Hamid Karzai. Glücklicherweise lief die Demo ruhig und relativ friedlich ab. Wir versuchten, die Stimmung einzuschätzen und potentielle Störer zu identifizieren. Wie gewohnt dokumentierten wir den Ablauf dieses Tages und gaben unseren Bericht am Abend in der niederländischen OPZ ab.
Das neue Team war nun vollständig. Ich war sehr froh darüber, dass kein Bruch in der Zusammenarbeit erfolgte. Von der ersten Minute an wurde ich als Mitglied dieses Teams akzeptiert. Ganz so, als sei ich schon immer ein Teil der niederländischen KCT gewesen. Die acht bis zehn Soldaten meines Teams sollte ich also die nächsten drei Monate, eine ganze Kontingentsdauer lang, begleiten. Sie löcherten mich beinahe und überhäuften mich mit Fragen über Fragen. Ein schönes Gefühl. Zu Beginn meiner Zeit bei den KCT war ich das Greenhorn gewesen – und nun auf einmal der »alte Hase«. Der harte Einschnitt, den ich befürchtet hatte, blieb also aus.
Das neue Team begann mit kleineren Aufträgen: Patrouillen und QRF-Tätigkeiten, die Überprüfung der Evakuierungsrouten nach Bagram und andere Routineaufgaben lagen nun an. Die Eingewöhnung sollte langsam vonstatten gehen. Niemand sollte ins »kalte Wasser« geworfen werden. Dieses langsame und behutsame Heranführen an die Aufgaben gefiel mir sehr. Es half auch beim gegenseitigen Kennenlernen, was für spätere Einsätze, die unter schwierigeren Bedingungen stattfinden würden, enorm wichtig und hilfreich war. Ein Woche ging das so, dann flatterte der erste interessante Auftrag herein. Einer Meldung der KMNB zufolge war im Bezirk Shina ein Waffenlager ausfindig gemacht worden. Sogar Raketen wurden dort vermutet. Die niederländischen Kommandos sollten sich die Lage vor Ort anschauen und den Verdacht
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