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Endstation Kabul

Endstation Kabul

Titel: Endstation Kabul Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Achim Wohlgethan
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er sich genauso fühlte. Trotzdem begannen wir, vollkommen mechanisch, zu helfen. Niemand von uns beiden sprach ein Wort. Wir verständigten uns nur mit Gesten und Kopfnicken. Bald wurden die Schreie der Verstümmelten gnädigerweise durch das Sirenengeheul der heranjagenden Rettungswagen übertönt. Ich war vollkommen überfordert, schaltete mein Gehirn ab. Ich sah meine Hände vorsichtig auf dem Boden liegende Menschen umdrehen, um herauszufinden, ob noch ein Fünkchen Leben in ihnen steckte. Das war bei keinem Einzigen der Fall. Wir waren zu nahe am Ort der Detonation, um Überlebende finden zu können.
    Ein Funkspruch brachte uns ins Hier und Jetzt zurück. Wir sollten unseren Auftrag nicht gefährden und wieder in unser Versteck gehen, kam die Anweisung aus der OPZ. Niemand achtete darauf, als Pieter und ich uns entfernten und zurück in das Gebäude huschten. Oben angekommen, wuschen wir uns lang und ausgiebig die Hände. Wir opferten Wasser aus dem Kanister, arbeiteten noch mit Feuchttüchern nach und sprühten uns zu guter Letzt noch mit Desinfektionsspray ein. Dann erst gingen wir zu den anderen beiden in der Beobachtungsstellung. Sie brauchten uns nur kurz anzugucken und verstanden, dass sie uns besser in Ruhe ließen.
    Erst später sollten wir erfahren, was eigentlich vorgefallen war: Die erste, kleinere Detonation hatte eine Art Lockvogelfunktion gehabt. Sie war von einem abgestellten Fahrrad ausgegangen, war nicht sehr stark und hatte »nur« einige in der Nähe stehende Personen verletzt. Etwa zehn Meter neben diesem Fahrrad parkte ein Taxi – dort, wo wir später nur noch einen Krater sehen sollten. In diesem Auto, so erfuhren wir später, sollten nicht weniger als hundert Kilo Sprengstoff detoniert sein. Das Fahrrad war mit dem Kalkül zur Explosion gebracht worden, dass sich im Anschluss viele helfende Hände und Schaulustige am Ort einfinden würden. Als der Menschenauflauf groß genug war, wurde dann die große Bombe in dem Taxi gezündet. Bei der Untersuchung des Vorfalls wurden auch Hinweise auf eine Fernzündung in den Trümmerteilen gefunden. Der oder die Täter hatten also – genau wie wir – das Geschehen auf dem Platz beobachtet, um im richtigen Moment den Zünder zu betätigen. Wir alle erschauerten bei diesen Erkenntnissen. Hatten sich diese skrupellosen Mörder vielleicht in nächster Nähe zu uns versteckt?
    Direkt nach diesem Ereignis wussten wir von diesen Umständen natürlich noch nichts. Als wir uns wenigstens ein bisschen beruhigt hatten, setzte der Teamführer eine Meldung an die OPZ ab. Von dort kam die Anweisung, dass wir unser Versteck nicht mehr verlassen und zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen treffen sollten. Eine wirklich gute Idee. Ich ging sofort ins Erdgeschoss und verrammelte die Türen, so gut es ging. Dann machten wir uns daran, im Parterre und auf der Treppe Stolperdrähte anzubringen, die wir an Rauchkörper koppelten. Falls jemand in das Gebäude eindringen oder über die Treppe nach oben kommen würde, hätten wir somit eine Alarmanlage. Durch die Erschütterung der Stolperdrähte würden die Rauchkörper nämlich zu stinken und zu qualmen anfangen. Damit wir auch ganz sichergehen konnten, brachten wir noch unsere Handgranaten in Stellung. Wir befestigten sie an den Barrikaden im Eingangsbereich. So würden wir verhindern können, dass man uns im Falle unseres Ausweichens schnell folgen könnte. Sollte nun jemand mit Gewalt einzudringen versuchen, würden die Handgranaten ausgelöst. Natürlich hatten wir sie so angebracht, dass sie zu keinem Zeitpunkt uns selbst gefährden konnten. Als wir unseren OP wie einen Hochsicherheitstrakt abgeschottet hatten, saßen wir vier stumm da und beobachteten die Rettungsversuche der herbeigeeilten Sanitätskräfte, die zum Großteil vergeblich waren. ISAF-Truppen oder Sanitätskräfte sahen wir keine, was wir nicht verstanden.
    Nach einigen Tagen wurden die offiziellen Zahlen gemeldet. Dieser Anschlag kostete 26 Menschen, unter ihnen auch Frauen und Kinder, das Leben. Mehr als 150 Afghanen wurden verletzt, zum Teil schwer. Einen Anschlag dieser Größenordnung hatte ich noch nie erlebt und hoffe, dass ich so etwas nie wieder erleben muss. Wenn ich heute Bilder von Bombenattentaten aus dem Irak sehe, bekomme ich eine Gänsehaut, und sofort sind diese Bilder vom 5. September 2002 wieder in meinem Kopf. Mir ist völlig schleierhaft, warum terroristische Attentäter den Tod so vieler Zivilisten billigend in Kauf nehmen, nur um zu

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