Endstation Kabul
aufging. Würde beim Öffnen eine Sprengladung zünden, wären wir draußen in Sicherheit. Als die Tür nach außen aufgegangen war und den Blick auf das Innere freigab, waren wir erleichtert: Es hatte keine Explosion gegeben, und wir sahen Fußböden ohne Teppiche. Das erleichterte unsere Aufklärung ungemein. Etwas abgebröckelten Putz und jede Menge Dreck, mehr fanden wir nicht in diesem fast leeren Gebäude. Wahrscheinlich war alles, was man noch irgendwie gebrauchen konnte, bereits aus dem Haus herausgeräumt worden. Wir gingen unter gegenseitiger Sicherung die sehr enge Treppe hinauf. Der obere Bereich erlaubte uns einen guten Blick auf das Gotteshaus, das leicht links von uns etwa hundert Meter entfernt lag. Genau vor dem Gebäude verlief eine Straße, was ideal war, wenn wir im Notfall von der QRF abgeholt werden und schnell verschwinden mussten. Alles in allem waren das ideale Bedingungen für uns: Wir hatten unseren OP gefunden.
Um alles optimal für unseren Einsatz vorzubereiten, erstellten wir Skizzen der Zu- und Abfahrtswege und erkundeten vorsichtig den Nahbereich des Objekts. Nachdem wir alle relevanten Informationen aufgenommen hatten, was sich bis in den Abend hinzog, fuhren wir zurück ins Camp und machten dort die Feinplanung. Als Allererstes wurden die Aufträge für den nächsten Tag verteilt: Wer kümmert sich um das benötigte Material? Also Wasser, Verpflegung, Batterien, optische Geräte zur Beobachtung, Funkgeräte, zusätzliches Sanitätsmaterial, Spreng- und Blendmittel zur Absicherung des eigenen Bereichs und Seile, um eventuell schnell aus dem Gebäude zu kommen. Auch Feldbetten wären schön, wichtig waren auch Feuchttücher für die Hygiene. Das mitgeführte Wasser war in erster Linie zum Trinken gedacht, wir konnten damit nicht verschwenderisch umgehen. Außerdem ging es um Fragen wie: Wer checkt die Fahrzeuge, wer kümmert sich um Zusatzbewaffnung und die Funkfrequenzen, um zu mehreren Stellen Verbindung halten zu können? Und so hatten wir bis spät in den Abend gut zu tun.
Nach wenigen Stunden Schlaf verlegten wir zu unserem Einsatzort. Am 5. September 2002 um 3.30 Uhr früh, also noch während der Ausgangssperre, fuhren wir im Camp los. Nur die afghanischen Polizisten mit ihren Checkpoints an den Kreisverkehren waren zu sehen, sonst rührte sich nichts. An unserem OP angekommen, luden wir zügig unser Material aus, damit der Fahrer noch die anderen Teams in ihre Verstecke bringen konnte. Wir wollten mit allen Vorbereitungen fertig sein, bevor die Sonne aufging. Als wir dann den Ruf des Muezzins der nahen Moschee hörten, waren wir so gut wie startklar. Die Operation »Sabre« konnte beginnen.
Unruhige Tage im Versteck
In diesem hoffentlich sicheren Beobachtungsversteck nahe einem Marktplatz würden meine drei Kameraden und ich also die Massud-Tage zubringen. Als sich die ersten Kabulesen auf den Straßen zeigten, lag mein Team bereits in seinem OP in Stellung. Jeweils zwei von uns observierten in Richtung der Moschee, die anderen beiden ruhten. Alle drei Stunden wurde gewechselt. Unseren Beobachtungspunkt hatten wir hinter der Fensterfront, aber etwas zurückgezogen in die Tiefe des Raumes, eingerichtet. Das hat den Vorteil, dass man von draußen nicht entdeckt wird, aber draußen alles erkennt, was man sehen möchte. Die Funkverbindung zu unserer OPZ stand, und einen Ruheraum hatten wir ebenfalls zur Verfügung. Eine kleine ehemalige Abstellkammer diente uns als »Toilette«. Dort stand nämlich unser »Shit bag«, ein Beutel aus verstärktem Plastik, in den man seine Notdurft verrichten konnte. Daneben ein Eimer Sand, als »Bindemittel«. Verpflegung und Wasser reichten für eine Woche, wir waren also autonom und benötigten keine Anschlussversorgung. Eine QRF war in der Nähe stationiert. Innerhalb von maximal zehn Minuten konnte sie alle Beobachtungspunkte der eingesetzten Teams erreichen, falls eine Evakuierung nötig wäre. Auch zu ihnen waren wir per Funk verbunden. Langsam kehrte Ruhe bei uns ein, unsere Bewegungen in dem Gebäude reduzierten sich auf das absolut Nötigste. In zwei Tagen sollten die Feierlichkeiten beginnen. Wir waren bereit.
Tausende Kabulesen und viele Fahrzeuge zogen an diesem Tag durch mein Sichtfeld. Im Gebäude wurde es heiß und stickig, und ich sehnte mich nach Abwechslung. Bei solchen Aufträgen hat man immer den Eindruck, dass die Zeit nicht vergeht. Man sitzt da und beobachtet. Drei Stunden am Stück. Die Zeit dehnt sich wie Kaugummi.
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